Hermeneutik - Ein Schlüsselwort für den Glauben (Teil 1)

Die Hermeneutik hat ihre Wurzeln in der Antike. Ihr Name leitet sich ab von Hermes, dem griechischen Götterboten, der zwischen den Göttern und Menschen vermittelte. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen und Auslegen von Texten. Konkret beschäftigt sich die Hermeneutik mit der Auslegung von Texten in Theologie, Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft oder Literaturwissenschaft. In Apostelgeschichte 8,26ff fragt Philippus den Schatzmeister von Aethiopien: «Verstehst du auch, was du liest»? Dann legt er ihm die Schrift aus. Der Schatzmeister wird gläubig und lässt sich taufen.

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1. Und Gott sprach…

Es liegt auf der Hand, dass Hermeneutik im Raum der christlichen Theologie und Kirche eine Schlüsselstellung einnimmt. Denn der christliche Glaube wie auch die Kirche stehen und fallen mit dem Wort des lebendigen Gottes. Die Bibel sagt: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort» (Johannes 1,1). Durch sein Wort schuf Gott den Himmel und die Erde (1. Mose 1,1ff; Johannes 1,3). Gottes Wort wurde in Jesus Christus «Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit» (Johannes 1,14). Demgemäss bezeugt Petrus: «Wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesus Christus, sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen» (2. Petrus 1,16). Ganz ähnlich schreibt Johannes: «Was von Anfang an da war, was wir gehört, was wir mit unseren (eigenen) Augen gesehen, was wir beschaut und unsere Hände betastet haben, (nämlich) vom Wort des Lebens … und wir haben (es) gesehen und verkündigen euch das ewige Leben, das beim Vater war…» (1. Johannesbrief 1,1f).  

Der Gott der Bibel spricht nicht durch vieldeutige Geräusche hoch oben im Äther. Er offenbart sich durch seinen Sohn in der Tiefe von Israels Fleisch - in einem Stall zu Bethlehem und an einem römischen Kreuz auf Golgatha bei Jerusalem. Demgemäss schreibt der Apostel: «Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verlorengehen, uns aber, die wir gerettet werden, ist es eine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben: ‘Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen’ … Weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt zu retten, die daran glauben» (1. Korinther 1,18ff; Sprüche 21,30; Jesaja 55,9). Jesus selbst bestätigt: «Die Schrift kann doch nicht gebrochen werden» (Johannes 10,35). Auch Paulus schreibt: «Ich glaube allem, was geschrieben steht…» (Apostelgeschichte 24,14).

2. Jesus öffnet das Verständnis für die Bibel

Als der auferstandene Christus kurz vor der Himmelfahrt seinen Jüngern erscheint und sie zur Verkündigung bis an die Enden der Erde beauftragt, erklärt er ihnen die Schriften des Alten Testaments: «Da öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden» (Lukas 24,45). Biblische Hermeneutik geschieht, wenn Christus selbst durch den Heiligen Geist seiner Gemeinde die Augen öffnet für die Wunder seines Wortes. Jesus Christus selbst ist das Wort Gottes in seiner Urgestalt (Johannes 1,1). ER ist Ursprung, Mitte, Ziel und Herr der Heiligen Schrift. Den Zugang zum Verständnis des Schriftwortes vermittelt der Heilige Geist, denn die Schrift ist durch Gottes Geist eingegeben (2. Timotheus 3,16). In dem Mass, wie wir Christus durch die Schrift erkennen (bzw. von ihm erkannt werden), werden unsere Augen und Ohren fähig, die Worte der Bibel, entsprechend ihrem Ort in der göttlichen Heilsgeschichte, zu erforschen und zu verstehen.

3. Die Krise der Gnosis

Mit der biblischen Christus-Verkündigung haben die ersten Zeugen Scharen von Heiden bekehrt. Schon im 2. Jahrhundert wurden sie aber auch herausgefordert, sich gegen die Irrlehre der GNOSIS zu wenden, die das Evangelium in abgehobene Visionen und trendige Philosophien verdrehte (vgl. schon 1. Timotheus 6,20). Allen voran Bischof Irenäus von Lyon (ca.115-202) wehrt sich damals entschieden gegen die Umformung des Evangeliums in eine philosophische Geist- und Erlebnisfrömmigkeit wider das Alte Testament. Irenäus, der den ganzen Mittelmeerraum kennt und in jungen Jahren in Ephesus noch den Johannesschüler Polykarp gehört hat, bezeugt der Christenheit im 2. Jahrhundert das klare biblische Evangelium wie es in allen Hauptgemeinden (Rom, Korinth, Ephesus usw.) überliefert wird (Irenäus, Gegen die Häresien, ca. 180).

Träumerische, rausch- und fantasievolle Zeitgeistideologien der Gnosis werben damals allenthalben für eine höhere, erlebnishafte Form des Christentums. Im Sinne eines ekstatischen Neuplatonismus lehren Gnostiker einen feinsinnigen Geist-Christus. Sie verwerfen den Schöpfergott des Alten Testaments und Gottes Menschwerdung, aber auch Jesu Sühnetod am Kreuz und seine leibhafte Auferstehung. Dadurch wird schon die frühe Kirche herausgefordert, das biblische Evangelium von schillernder Irrlehre abzugrenzen. In diesem Kampf der frühen Gemeinde um die Wahrheit des Glaubens entsteht bereits im 2. Jahrhundert in der römischen Gemeinde die Urform unseres Apostolischen Glaubensbekenntnisses[1]: Gott ist der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde; Jesus wurde gekreuzigt, gestorben und begraben; am Ende der Zeit wird er kommen zum Gericht und zur «Auferstehung des Fleisches». Diese so genannte «Regel der Wahrheit» wurde in der Alten Kirche zur «Richtschnur» der Hermeneutik. Durch ihr treues Zeugnis des biblischen Evangeliums «mit Herzen, Mund und Händen» hat die verfolgte Kirche das Heidentum des Römerreichs überwunden.

4. Augustin: Erst die Sachen, dann die Zeichen

Kurz vor dem Untergang des weströmischen Reichs fasst der grosse Kirchenlehrer Augustin (354-430) in seinem berühmten Werk «De doctrina christiana» die altkirchliche Hermeneutik in vorbildlicher Prägung zusammen. Auch für ihn ist die «Regel der Wahrheit» massgebend. Sein Leitwort lautet: «Erst die Sachen, dann die Zeichen»! An die erste Stelle gehört immer die faktenbasierte biblische Geschichte des Heils, denn der Glaube gerät ins Wanken, wenn das Ansehen der Heiligen Schrift leidet! Augustins geistige Herkunft, seine Sprache und die Wurzeln seines Denkens sind durch die Philosophie des Neuplatonismus geprägt. Doch genauso wie die grossen Väter der Ostkirche (z. B. Athanasius) weist Augustin der neuplatonischen Philosophie und Sprache eine dienende Funktion zu. Schon Paulus mahnte: «Hütet euch, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt», denn in Christus «liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis» (Kolosser 2,8 und 2,3). Demgemäss entwirft Augustins umfassender Geist im Gewand des Neuplatonismus eine umfassende systematische Theologie am Vorabend des Mittelalters. Seine Sprache, Worte und Zeichen sind in Christi Tod getauft. Damit stehen sie in einem neuen Herrschaftsverhältnis. So wird Augustin mehr als tausend Jahre später zum Lehrer der Reformatoren.

5. Reformation: Nach dem Wortlaut der Schrift – nicht mit vorgefasster Meinung

Die Reformatoren, allen voran Luther, Zwingli und Calvin, fordern eine radikale Rückbesinnung der Kirche auf den Wortlaut der Heiligen Schrift. Die Exegese (Auslegung) soll schriftgebunden und frei von subjektiver Willkür sein. Martin Luther betont, dass der Schlüssel zum Verständnis der Bibel in ihr selbst angelegt sei. «Scriptura sui ipsius interpres»: die Schrift legt sich selbst aus. Jeder Christenmensch und jede christliche Gemeinde hat die Gabe, die Schrift auszulegen und zu verstehen; sie brauchen dazu weder Papst noch Bischöfe: «Sola Scriptura», allein die Schrift! Dabei soll man der Bibel nicht mit einer vorgefassten Meinung begegnen, sondern auf ihren eigenen Wortlaut achten. Die Schriftauslegung darf die Bibel nicht daran hindern, ihre eigene Sache zu sagen, da sonst der Ausleger dem Wort der Bibel ins Wort fällt. Luther sagt: «Also ist die Schrift selbst ihr ein eigen Liecht» (Predigt 1522).[2]

6. Moderne Weltanschauung: Hermeneutik mit aggressivem Eroberungstrieb

Während 1’700 Jahren hat die Christenheit die Bibel gelesen mit dem Gebet: «Herr rede, dein Knecht/deine Magd hört». Dies ändert sich im Zug der Neuzeit, vor allem im Zeitalter der Aufklärung (frz. les lumières!) im 18. Jahrhundert. Der aufgeklärte Mensch tritt in stolzer Überheblichkeit und mit einem aggressiven Eroberungstrieb an die Heilige Schrift heran. Die Bibel versteht er lediglich als ein altes Literaturprodukt des Vorderen Orients. Die Lichtquelle für seine Forschung erkennt er nicht mehr in der Heiligen Schrift, sondern in sich selbst. Der aufgeklärte Mensch gibt sich selbst das Gesetz. Er lebt und handelt autonom.  Weil er die Bibel nicht mehr in der Gegenwart des auferstandenen Christus liest, klafft zwischen ihm und dem Neuen Testament nun plötzlich ein «garstiger Graben» von beinah 2000 Jahren.

Demgemäss versucht er, die alte Bibel mit säkularen wissenschaftlichen Methoden in die Gegenwart zu holen. An den deutschen Universitäten in Halle und Tübingen entwickeln die Theologieprofessoren Johann Salomo Semler (1725-1791) und Ferdinand Christian Baur (1792-1860) die sogenannte historisch-kritische Methode. Semler und Baur gelten als die Väter der Liberalen Theologie. Diese Art von Bibelforschung versteht sich im deutschsprachigen Raum bis heute weitgehend und beinah ausschliesslich als die einzige wissenschaftliche Art evangelischer Theologie.

Der liberale Systematiker Ernst Troeltsch (1865-1923) formuliert um 1900 drei «unumstössliche» Grundsätze historischer Kritik:

1.Kritik: Jedes überlieferte Ereignis kann nur dann historische Faktizität beanspruchen, wenn es dem kritischen Blick eines aufgeklärten Menschen standhält.

2. Analogie: Jedes Ereignis kann nur dann historische Wahrheit beanspruchen, wenn irgendwo im weiten Fluss der Geschichte ein gleiches oder ähnliches Faktum aufscheint. Die Auferstehung eines Toten zum Beispiel zählt nicht dazu. Darum ist sie kein historisches, sondern ein mythologisches Ereignis. Troeltsch bezeichnet das Prinzip der Analogie als zentral und «allmächtig».

3. Korrelation: Die Geschichte ist ein Fluss. Jedes kleinste Ding, das sich bewegt, wird durch tausend andere Teilchen mitbewegt und mitbedingt, d. h. es steht zum übrigen innerweltlichen und natürlichen Geschichtsverlauf in einem kausal-mechanischen Zusammenhang. Damit erweisen sich die meisten biblische Wunder als unhistorisch.

Was bei dieser Art von Bibelauslegung übrigbleibt, ist ein Trümmerfeld legendärer Erzählungen. Die Weihnachtsgeschichte wird zur frommen Legende, Jesu Sühnopfer am Kreuz bleibt übrig als «primitive Mythologie», die Speisung Jesu von 5000 Menschen ist eine nette Symbolgeschichte usw. Die Verkündigung der christlichen Kirche wird zu einem Sammelsurium von Mythologien, der christliche Glaube zu einer Religion unter Religionen. Zu Jesus beten verliert jeden Sinn und alle Bedeutung.

Fortsetzung folgt…


[1] Volltext im Evangelisch-reformierten Gesangbuch der Schweiz: Nr. 263. [2] Anmerkung Jürg Buchegger: «Wie Luther hielten sich die anderen Reformatoren (Zwingli, Bullinger, Calvin) bei der Schriftauslegung gegen jeden Subjektivismus an die «Regel der Wahrheit», «regula fidei», die Bekenntnisse der Kirche.»

Zum Autor

Armin Sierszyn ist emeritierter reformierter Pfarrer. Er war Professor für Kirchengeschichte und Praktische Theologie an der STH Basel. Zur Vertiefung empfehlen wir seine Studie: Christologische Hermeneutik, LIT Zürich 2010.