Wie weit gelten die Gebote der Bibel für uns?

Viele sind der Ansicht, dass für die heutige Kirche die Gebote der Bibel nur noch sehr eingeschränkt gelten, wenn überhaupt. Die Begründungen sind unterschiedlich: Nicht Regeln und Gebote seien für Christen entscheidend, sondern die Liebe. Christen stünden nicht mehr unter dem Gesetz, sage das Neue Testament. Aber auch von unserem heutigen Erkenntnisfortschritt her seien viele biblische Gebote veraltet. Der Schöpferwille Gottes werde in der Wirklichkeit der Schöpfung und ihrer Lebensformen deutlich, wie wir sie heute verstehen, und nicht in den zeitbedingten Vorstellungen der Bibel.

Dr. Christian Stettler, Pfarrer in Flaach und Professor für Neues Testament, zeigt auf, dass es klare Kriterien gibt dafür, welche Gebote der Bibel heute noch gelten.1

In der Diskussion um ethische Themen wird die Bibel von vielen Reformierten nur sehr selektiv hinzugezogen. Dabei sind unsere reformierten Kirchen gerade aus der Überzeugung hervorgegangen, dass sich die christliche Kirche in Bezug auf ihren Glauben und ihre Lebensformen ständig an der Bibel als dem Wort Gottes ausrichten muss. Unsere Selbstbezeichnung «reformierte Kirche» ist ja nur die Kurzform des vollständigen Ausdrucks: «die nach Gottes Wort reformierte Kirche»!2

Was der Schöpferwille Gottes ist, können wir nicht einfach aus dem ableiten, was die Mehrheit oder die Lautesten in unserer Gesellschaft als richtig ansehen, und auch nicht aus der vorfindlichen Gestalt unserer Welt und ihrer Lebensformen. Die Welt und unsere Gesellschaft sind in ihrer Faktizität nicht normativ, es ist nicht alles gut, sondern es gibt da auch Böses. Deshalb sind wir auf Offenbarung angewiesen. Gott offenbarte seinen Schöpferwillen in einer langen Heilsgeschichte seinem erwählten Volk Israel und durch Israel der Welt. In der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments ist uns diese Offenbarung dokumentiert; sie bleibt in dieser Gestalt normativ, bis Jesus Christus wiederkommt und wir Gott von Angesicht sehen werden (vgl. 1. Korinther 13,12). Den Schöpferwillen Gottes erkennen wir, indem wir sorgfältig hinhören auf die Bibel als sein Wort und mit den Reformatoren darauf vertrauen, dass sie in allen wichtigen Aussagen klar und mit dem menschlichen Verstand auch klar zu verstehen ist.

Nicht mehr unter dem Gesetz – oder doch?

Nun geschah diese Offenbarung in einer Geschichte, in der frühere Offenbarungen in den späteren entfaltet und weitergeführt werden. Die Bibel ist der Niederschlag dieser Offenbarungsgeschichte. Aus diesem Charakter der Bibel ergibt sich das Problem, wie wir als Christen mit den Geboten Gottes umgehen sollen.

Jesus erklärt alle Speisen für rein und damit Gottes (!) Speisegebote im Alten Testament für nicht mehr verbindlich (Markus 7,14-23). Gemäss Paulus sind die Glaubenden seit dem Kommen des Messias nicht mehr «unter dem Gesetz» - Gottes Gesetz! (Galater 3,23-26 und öfter), und nach Paulus haben Christen, die meinen, sie seien noch verpflichtet, Beschneidung, Speisegebote oder alttestamentliche Feste einzuhalten, Christus und das von ihm geschenkte ewige Heil verloren (Galater 5,2-4).

Das ist die eine Seite. Derselbe Jesus betont aber auch, er sei nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllen (Matthäus 5,17-19), und er bestätigt die bleibende Gültigkeit der Zehn Gebote (z. B. Matthäus 19,16-26). Auch Paulus zitiert die Zehn Gebote in seinen Anweisungen an die christlichen Gemeinden (z. B. in Römer 13,9). Wie soll man das verstehen? Gilt das Gesetz noch, oder gilt es nicht mehr?

Fortschritt und bleibend Gültiges

Es gibt da noch ein weiteres Problem. Im Neuen Testament selber gibt es Anweisungen, die wir selbstverständlich als kulturell bedingt ansehen und deshalb nicht mehr praktizieren, z. B. der «heilige Kuss» im Gottesdienst oder das Aufheben der Hände zum Beten. Zugleich sind wir überzeugt, dass andere Anweisungen auch heute gültiger Ausdruck des Gotteswillens sind, z. B. das Gebot der Nächstenliebe oder die Aufforderung, jeden Tag Gottes Fürsorge zu vertrauen.

Offenbar gibt es sowohl innerhalb der Bibel (vom Alten zum Neuen Testament) als auch zwischen dem Neuen Testament und uns heute beides: Gebote, die weiterhin unverändert gültig bleiben, aber auch Fortschritt und Veränderung – sowohl beim Fortschreiten der Offenbarungsgeschichte vom Alten zum Neuen Bund als auch beim Umgang mit kulturell bedingten Anweisungen in späterer Zeit.

Es geht also um zwei Fragen, die wir voneinander unterscheiden müssen:

  1. Wenn das Alte Testament auch im Neuen Bund gültiges Gotteswort bleibt, in welcher Weise gilt es dann für uns Christen, nach dem Kommen des Messias? Wie stellen wir fest, was wir weiterhin praktizieren müssen und was nicht?
  2. Wie stellen wir fest, was von den Anweisungen im Neuen Testament kulturbedingt ist und was allgemein gültig bleibt? Und wie können wir herausfinden, welche überzeitlich gültigen Prinzipien hinter den kulturbedingten Geboten stehen und wie wir in einer anderen Kultur diesen Prinzipien treu bleiben können?

1. Vom Alten zum Neuen Testament

In welcher Weise bleiben die Gebote Gottes gültig? Die Spannung zwischen «nicht mehr zu praktizieren» und «immer noch zu praktizieren» finden wir im Neuen Testament nicht zwischen den verschiedenen Autoren, sondern bei Jesus selber, bei Paulus selber.

a) Jesus

Jesus macht in der Bergpredigt klar, dass das Alte Testament («das Gesetz und die Propheten») für ihn gültiges, verbindliches Gotteswort ist, und zwar nicht nur Teile davon, sondern ganz (Matthäus 5,17-19). Allerdings liest Jesus das Gesetz v. a. als Prophetie, die auf ihn selber hinweist: «Ich bin gekommen, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen». Mit «erfüllen» meint Jesus nicht: «das Gesetz tun», sondern: das, was das Gesetz prophetisch verheissen hat, Realität werden lassen.

Mit dem Kommen des Messias ist eine neue Zeit angebrochen, Jesus nennt sie das «Himmelreich» oder «Gottesreich» (Matthäus 4,17; Markus 1,15 u. a.) und den «Neuen Bund» (Lukas 22,20). Diese Zeit wurde im Alten Testament verheissen (Jesaja 52,7-10; Jeremia 31,31-34; Ezechiel 36,25-27 u. a.). Es ist die Zeit, in der Gott den Menschen seinen Willen nicht mehr nur von aussen, auf Gesetzestafeln, kundtut. Jetzt schreibt er seinen Willen ins Innere der Menschen, macht die Herzen neu, reinigt und heiligt die Menschen von innen her und macht sie so fähig, seinen Willen zu tun.

Im Alten Bund, im Mose-Gesetz, wurde die Reinheit und Heiligkeit des Gottesvolks durch viele äussere Dinge symbolisiert, durch die Israel auf Schritt und Tritt daran erinnert wurde, dass es von den anderen Völkern abgesondert war und Gott gehörte (3. Mose 11,43-44). Im Neuen Bund müssen diese Gebote nicht mehr getan werden; sie bleiben gültig als prophetische Symbole, die auf die Reinheit des Gottesvolks im Neuen Bund hinweisen und durch Jesus erfüllt wurden. Hingegen sind alle jene Gebote weiterhin zu praktizieren, welche die Beziehung zu Gott und den Mitmenschen betreffen.

Das wird besonders deutlich in Markus 7,14-23: Hier erklärt Jesus alle Speisen für rein, und das heisst: Jetzt, im Neuen Bund, müssen die äusseren Symbole der Speise- und Reinheitsgebote nicht mehr praktiziert werden, weil das, was sie symbolisierten, Realität geworden ist. Weiterhin zu praktizieren ist hingegen das, was das Herz betrifft: Hier zählt Jesus Verhaltensweisen auf, die ihre Wurzel im Herzen haben und die Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott betreffen; es sind zum Teil Verhaltensweisen, die direkt mit den Zehn Geboten verbunden sind (Markus 7,21-22: «Unzucht, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, … Neid, Lästerung …»).3 

Es gibt also Gebote aus dem Alten Testament, die nach Jesus auch im Neuen Bund zu praktizieren sind. Als erstes Kriterium können wir somit festhalten: Gebote, die materielle Dinge betreffen, müssen nicht mehr praktiziert werden; Gebote, welche die Beziehung zu Gott und Mitmenschen betreffen, bleiben zu tun.

Dies wird bestätigt durch ein zweites Kriterium, das wir bei Jesus finden: das doppelte Liebesgebot. Interessanterweise definiert Jesus das Zentrum des Gotteswillens für die neue Zeit ja mit zwei Geboten aus dem alttestamentlichen Gesetz: Gott zu lieben von ganzem Herzen und den Nächsten zu lieben wie sich selbst (Matthäus 22,35-40 nimmt 5. Mose 6,5 und 3. Mose 19,18 auf).

Nach Jesus «hängt an diesen beiden Geboten das ganze Gesetz samt den Propheten» (Matthäus 22,40).4  Das bedeutet ein Dreifaches:

• Erstens definiert das Liebesgebot, welche Gebote des Alten Testaments im Neuen Bund weiterhin gelten: Es sind alle die Gebote, die mit Beziehungen zu tun haben, mit der Beziehung zu Gott oder den Beziehungen unter Menschen. Sie bleiben im Neuen Bund in Kraft und zu tun.5

• Zweitens ist die Liebe das Herz und die Motivation aller Gebote; wenn Gehorsam nicht als Ausdruck der Liebe zu Gott und den Menschen geschieht, geht das an Gottes Intention vorbei (vgl. Matthäus 23,23).

• Drittens definieren alle Gebote, die mit Beziehungen zu tun haben, was Liebe konkret heisst. «Liebe» ist ein kulturell und individuell sehr verschieden füllbares Wort, deshalb braucht es die anderen Gebote als Erklärung.

b) Paulus

Auch für Paulus bleibt das Alte Testament gültiges Gotteswort. Das alttestamentliche Gesetz ist für ihn «geistlich», also von Gott stammend, «heilig, gerecht und gut» (Römer 7,14.12). Er liest das Alte Testament als Prophetie auf Jesus hin (Römer 1,1-2; 3,21-26); deshalb ist Jesus als der Messias das «Ziel des Gesetzes» (Römer 10,4).

In Kolosser 2,16.21 verwendet Paulus das Bild vom «Schatten»: Der Messias ist die Realität, die ihren Schatten schon in die Zeit des Alten Bundes vorausgeworfen hat; die Institutionen und Gesetze des Alten Testaments sind sein Schatten, sie weisen symbolisch, prophetisch auf ihn hin. Nach dem Kommen der Realität müssen Schatten nicht mehr befolgt werden. Paulus zählt dazu die Gebote über äussere Reinheit, Essen und Trinken, Festtage und die Beschneidung (Kolosser 2,16-23; Römer 14; Galater 4,10; 5,2.6; 6,15).

Und auch für Paulus bildet das alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe weiterhin das Zentrum des geoffenbarten Gotteswillens (Römer 13,8-10; Galater 5,6.14), und er zitiert weitere alttestamentliche Gebote, die auch von Christen praktiziert werden müssen (z. B. Römer 13,9; 1. Korinther 5,1-5), Das Verhalten, das der Heilige Geist in den Christen bewirkt, stimmt nach Paulus mit Gottes Geboten überein und erfüllt diese (Römer 8,4; 1. Korinther 7,19; Galater 5,22-23).

Wie entscheidet Paulus, welche Gebote auch Christen befolgen müssen und welche nicht? Die beiden Kriterien Jesu sind auch bei Paulus zentral: erstens das Liebesgebot, zweitens die Unterscheidung zwischen Aussen und Innen. Auch nach Paulus wird das ganze Gesetz im Gebot der Nächstenliebe «zusammengefasst» und «erfüllt» (Römer 13,8-10; Galater 5,14).6 Auch bei ihm definiert das Liebesgebot, welche Gebote des Alten Testaments im Neuen Bund weiterhin gelten, nämlich die Gebote über Beziehungen; die Liebe ist das Herz und die Motivation aller Gebote (vgl. 1. Korinther 13); und die Gebote, die mit Beziehungen zu tun haben, definieren näher, was Liebe heisst (z. B. 1. Korinther 5,1-5; Römer 1,26-27).

Beim 2. Kriterium verwendet Paulus für das «Aussen» die Begriffe «Fleisch», «Welt», «Vergängliches», «Irdisches» oder «Elemente der Welt».7

Vor allem der letzte Begriff macht deutlich: Alle alttestamentlichen Gebote, die mit der materiellen Welt zu tun haben und nicht mit Beziehungen, müssen im Neuen Bund nicht mehr praktiziert werden. Sie bleiben gültig als prophetische Symbole, die auf den Messias hinweisen und auf die Herzensreinheit, die er schenkt. Dazu gehören, wie schon erwähnt, die Gebote über die Feier- und Festtage, über die körperliche Reinheit (Berührung, Speise) und die Beschneidung.

In der Frage, welche Gebote aus dem Alten Testament im Neuen Bund (und also von der christlichen Kirche) noch zu praktizieren sind, stimmen Jesus und Paulus überein. Beide nennen dieselben klaren Kriterien: Es sind die Gebote, welche die Beziehungen zu Gott und zu den Mitmenschen betreffen und im doppelten Liebesgebot zusammengefasst werden.

2. Was an den Anweisungen im Neuen Testament ist kulturell bedingt?

Wie können wir begründet feststellen, welche Gebote kulturell bedingt sind und welche nicht? Und wie können wir jeweils das zugrundeliegende Prinzip herausfinden, das auch für uns gilt, aber in unserer Kultur anders umgesetzt werden muss? Was ist bleibend gültig, unabhängig von Zeit und Kultur, und wo darf, ja muss es Fortschritt geben?

Dieses Thema ist nicht einfach; wir haben die natürliche Tendenz, Aussagen, die uns Schwierigkeiten bereiten, als kultur- und zeitbedingt anzusehen. Faktisch gewichten wir so unsere eigenen Vorlieben oder unsere eigene kulturelle Prägung höher als die Aussagen in Gottes Wort. Deshalb benötigen wir zuverlässige Kriterien, um kulturbezogene Aussagen von überzeitlich gültigen Prinzipien zu unterscheiden.8

a) Es gibt eine klare Stossrichtung

Auf sicherem Boden bewegen wir uns dann, wenn wir im Neuen Testament selber eine gewisse Spannung feststellen können zwischen allgemeinen Prinzipen und konkreten Weisungen. In verschiedenen Zusammenhängen stellt das Neue Testament grundlegende ethische Prinzipien auf, die es dann auf konkrete kulturelle Verhältnisse anwendet.

Hier gilt es jeweils zu fragen:

  1. Was ist das zugrundeliegende Prinzip? Und zwar nicht ein von uns vermutetes oder rekonstruiertes Prinzip, sondern eines, welches das Neue Testament explizit formuliert!
  2. Wie wird dieses Prinzip in konkreten Anweisungen für eine bestimmte kulturelle Situation angewendet? Welche Spannungen beobachten wir da? Was könnten die Gründe sein, warum das Prinzip gerade so und nicht anders implementiert wird? Welche kulturellen Gründe könnten es nötig gemacht haben, dass ein allgemeines Prinzip nur unvollständig durchgesetzt werden konnte?

Dies wird bei den Anweisungen für Frauen und Sklaven deutlich. Das diesen Ermahnungen zugrundeliegende Prinzip ist die Gleichstellung und Gleichwertigkeit aller Christen. Wir finden es etwa in Galater 3,26-28 formuliert, wo es von den Christen heisst: «Ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus Jesus. … Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins im Messias Jesus.»9

Dieser Gleichstellung entspricht die gegenseitige Liebe und Unterordnung aller Christen. So überschreibt Paulus seine Anweisungen an Frauen und Männer, Kinder und Eltern, Sklaven und Sklavenbesitzer in Epheser 5,21: «Ordnet euch einander unter in der Ehrfurcht vor dem Messias.»10 In der christlichen Gemeinde sind die ethnischen, geschlechtlichen und sozialen Unterschiede irrelevant in Bezug auf die Stellung vor Gott und den Umgang miteinander. Diesen Grundsatz gilt es im Alltagsleben so weit wie möglich einzuholen, in der Kirche wie in der Gesellschaft.

Diese Stossrichtung ist im Neuen Testament sichtbar, und sie hört mit dem Neuen Testament nicht auf.11 Die praktische Implementierung der grundsätzlichen Gleichwertigkeit bleibt zu allen Zeiten und in allen kulturellen Kontexten eine Herausforderung.

Es ist hoch interessant, wie Paulus das Prinzip der Gleichstellung und Gleichbehandlung im damaligen kulturellen Kontext anmahnt. Gläubige Sklaven ermutigt er nicht dazu, sich gegen die vorfindliche gesellschaftliche Ordnung aufzulehnen. Paulus scheint durch seine Aufforderung zum Gehorsam gegen die Sklavenbesitzer auf den ersten Blick die herrschende Ungleichheit zu zementieren.

Immerhin ermuntert er die Sklaven, die Gelegenheit zur Freilassung zu ergreifen, wo sie sich bietet (1. Korinther 7,21-22; vgl. Philemon 16), und er weist sie darauf hin, dass sie ihrem himmlischen Herrn verantwortlich sind und deshalb ihre Arbeit als Dienst für ihn tun sollen (Kolosser 3,22-25; Epheser 6,5-8). Ihre innere Freiheit als «Diener Christi» gibt ihnen Würde und verändert ihre Motivation für ihre Arbeit.

Genauso ermahnt Paulus die Frauen, sich nicht gegen die gesellschaftlich geforderte Unterordnung unter die Männer aufzulehnen. Auch hier entsteht zunächst der Eindruck, dass Paulus die herrschende Ungleichheit bestätigt. Immerhin spricht er den Frauen in dieser Struktur eine grosse innere Freiheit zu: Letztlich sind sie ihrem himmlischen Herrn verantwortlich (Epheser 5,22; Kolosser 3,18). 

Frauen und Sklaven ermutigt das Neue Testament als gesellschaftlich schwächer Gestellte bzw. Rechtlose nicht zur Sozialrevolution; sie hätten dazu ohnehin keine Möglichkeit gehabt. Vielmehr werden sie in ihrer Freiheit und Würde bestärkt, die sie durch Christus haben. Dadurch erhält ihr Verhalten im gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen eine völlig neue Motivation.

Das Revolutionäre liegt hingegen in den Ermahnungen an die gesellschaftlich stärker Gestellten (Männer, Sklavenbesitzer). Sie sollen durch ihr Verhalten die gesellschaftliche Ungleichheit faktisch von innen her überwinden. Ehemänner sollen ihre Frauen so lieben, wie Christus die Gemeinde geliebt hat, d. h. sie sollen ihren Frauen dienen bis zur Hingabe des Lebens (Epheser 5,22-33) – aus der gesellschaftlich geforderten, unfreiwilligen und einseitigen Unterordnung der Frauen wird eine von Christus motivierte, freiwillige und gegenseitige Unterordnung (Epheser 5,21).

Ähnlich werden die Sklavenbesitzer darauf hingewiesen, dass sie für ihr Verhalten gegen die Sklaven vor ihrem gemeinsamen himmlischen Herrn verantwortlich sind, vor dem es «kein Ansehen der Person» gibt und somit auch keinen Unterschied zwischen Sklaven und Herren (Epheser 6,9). Philemon wird von Paulus sogar gedrängt, seinen Sklaven Onesimus, der kürzlich Christ geworden ist, jetzt als gleichwertigen Bruder zu behandeln und in die Freiheit zu entlassen (Philemon 8-21).

In den konkreten Ermahnungen ist also ein klare Stossrichtung zu erkennen: Es gilt, das allgemeine Prinzip der Gleichstellung und Gleichwertigkeit, welche den Frauen und Männern, Sklaven und Freien in Christus geschenkt ist, im jeweiligen kulturellen Umfeld zu implementieren. Alle sind verantwortlich, gemäss ihren gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten die kulturellen Ungleichheiten im Kleinen und im Grossen so weit wie nur möglich zu überwinden.

b) Es gibt überhaupt keine Veränderung

Diese Stossrichtung ist aber nicht bei allen neutestamentlichen Geboten sichtbar. Ein Beispiel bei Jesus ist die Aufzählung von Gebotsverstössen, welche den Menschen unrein machen (Markus 7,21-23). Bei Paulus finden wir mehrere ähnliche Aufzählungen (Römer 1,18-32; 1. Korinther 6,9-10; Galater 5,19-21; Epheser 5,5).12 Hier betont er, dass Gott Menschen, die an einer der genannten Verhaltensweisen festhalten, im Endgericht von seinem Reich ausschliessen wird. Wie die Art der Formulierung zeigt («Götzendiener» bzw. «Götzendienst» etc.), geht es hier nicht um einzelne Verfehlungen, die jemand bereut, sondern um ein Verharren in einer solchen Verhaltensweise – nach dem Motto: «Das ist richtig, ich mache weiter damit, ich habe ein Recht darauf.»

Die genannten Verhaltensweisen lassen sich folgendermassen einteilen:13

Verstösse gegen die Liebe zu Gott

  • Götzendienst
  • Lästerung, Gotteshass
  • Zauberei

Verstösse gegen die Liebe zum Nächsten

  • Lieblosigkeit, Erbarmungslosigkeit
  • Eigennutz
  • Habsucht, Diebstahl, Raub
  • Feindschaft, Streit, Spaltungen
  • Hochmut, Prahlerei
  • Üble Nachrede, Verleumdung
  • Gewalttätigkeit, Mord
  • Eifersucht, Neid
  • List, Tücke
  • Jähzorn
  • Ungehorsam gegen Eltern
  • Ehebruch
  • Unreinheit14
  • Ausleben der Sexualität ausserhalb der Ehe15
  • Ausleben von Homosexualität16

Verstösse gegen die Liebe zu sich selbst

  • Trunksucht
  • Ausschweifung
  • massloses Trinken und Essen

Hier geht es um Ausdrucksformen des Bösen; sonst hätten sie nicht den Verlust des ewigen Heils zur Folge. Es geht also um Verstösse gegen Gebote, die keinem kulturellen Wandel unterliegen, sondern überzeitlich gültig sind und auch heute unser Verhalten als Christen bestimmen müssen.

Was Gott in dieser überzeitlichen Weise gut nennt, bleibt gut; was er böse nennt, bleibt böse. Wir haben nicht das Recht, gut zu nennen, was nach Gottes Gebot böse ist. Gottes Gebote sind uns als Massstab vorgegeben, nicht jedes Verhalten hat in der Kirche Platz.

Die genannten Verhaltensweisen werden untereinander nicht gewichtet: Keine ist schlimmer oder weniger schlimm als andere. Wir dürfen also nicht einzelne dieser Sünden betonen und andere verharmlosen oder gar ausblenden, wie es immer wieder geschieht.

Ergebnis

Alttestamentliche Gebote, die materielle Dinge und nicht Beziehungen betreffen, müssen wir im Neuen Bund nicht mehr praktizieren. Dazu gehören die Gebote über äussere Reinheit (Essen, Trinken, Berühren), Festtage und Beschneidung. Aber alle Gebote, welche die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zu mir selber betreffen, bleiben in Kraft. Sie werden zusammengefasst in den (alttestamentlichen!) Geboten, Gott zu lieben von ganzem Herzen und den Nächsten zu lieben wie mich selbst. Alle weiteren Beziehungsgebote definieren die Liebe und ihre Ordnungen.

In unterschiedlichen kulturellen Kontexten kann und muss die Liebe unterschiedlichen Ausdruck finden. Von diesen kulturellen Ausprägungen zu unterscheiden sind die moralischen Massstäbe, nach denen Gott uns im Endgericht richten wird. Gott stellt die christliche Kirche aller Zeiten in die Verpflichtung, nach diesen transkulturell gültigen Geboten zu leben.

Dazu gehören auch die Ordnungen der Liebe, wie sie durch die Gebote verbindlich und überkulturell definiert werden. Wir können nicht gegen biblische Beziehungsordnungen argumentieren, indem wir uns auf die Liebe berufen; das würde nur zeigen, dass wir Liebe anders definieren, als Gott es tut. Liebe in Gottes Sinn kann sich nur in den Ordnungen bewegen, die Gott seiner Schöpfung eingestiftet und in seinen Geboten offen-
bart hat. Ausserhalb dieser Ordnungen hört sie auf, Liebe gemäss Gottes Schöpfungswillen zu sein. Es gibt Beziehungsformen, welche Gottes Vorstellung von Liebe widersprechen und deshalb Fluch, nicht Segen nach sich ziehen. Was Gott nicht segnet, dürfen auch wir nicht segnen.

Im Licht der überzeitlich gültigen Gebote Gottes wird aber auch klar: Niemand ist von sich aus gerecht im Sinne der Gebote Gottes. Niemand ist ohne Sünde, und niemand ist vollkommen in der Liebe. Ohne Christus gehen wir alle dem Fluch, der ewigen Verurteilung entgegen. Gott hat sich damit nicht zufriedengegeben – in seiner grenzenlosen Liebe hat Gott der Sohn am Kreuz stellvertretend unseren Fluch getragen, unser Gericht erlitten.

Weil Jesus unsere Schuld am Kreuz getragen hat, bietet uns Gott an, die Rettung im Glauben zu ergreifen, ohne jede Vorbedingung. Durch Jesus können wir vollständige Vergebung für alle unsere Sünden erfahren und den Heiligen Geist empfangen, der uns von innen her verändert und uns befähigt, nach Gottes Geboten zu leben. So wird unsere bruchstückhafte Liebe umfangen und getragen von Gottes vollkommener Liebe.

Wissenswertes

Der Zürcher Strafrechtsprofessor Peter Noll (1926-1982) ist auf einem ganz anderen Anmarschweg zu erstaunlich ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen.17 Er analysierte aus rechtlicher Sicht, wie Jesus mit Normen – dem «Gesetz» – umging.  Zwei wichtige Ergebnisse:

  1. Jesus bekräftigt diejenigen Normen, welche den Menschen dienen. Normen, «die mangels eines Bezuges auf die Zwischenmenschlichkeit mit der Unterscheidung von Gut und Böse nichts zu tun haben», lehnt Jesus ab, also z. B. kultische Regelungen (S. 5).
  2. Jesus fasst den Gotteswillen mit dem doppelten Liebesgebot zusammen, hebt aber die das Zusammenleben regelnden Gebote nicht auf. Die Wechselwirkung zwischen dem Liebesgebot und den Einzelgeboten ist diejenige zwischen Generalklausel (Grundrecht) und Einzelnormen: Die Generalklausel ist «höherrangig, indem die Einzelnormen und das Ergebnis ihrer Anwendung unter dem Aspekt der Generalklausel zu überprüfen … und die Normen der einfachen Gesetze im Lichte der Grundrechte zu interpretieren» sind; zugleich kommt die Generalklausel nicht ohne Einzelnormen, nicht ohne Kasuistik aus, denn diese «ist genauer, lässt die Entscheidungen sicherer voraussehen, verwirklicht also grössere Rechtssicherheit als die Generalklausel» (S. 12).

Allerdings kam Jesus nicht nur durch «seine grundsätzlich normenkritische Haltung» aus anthropozentrischer Perspektive zu einer Neubewertung der Normen (wie Noll meint). Seine Neubewertung der Tora ergab sich aus der Überzeugung, dass mit ihm, dem Messias, der Neue Bund bzw. das Gottesreich angebrochen war.

Zum Autor

Prof. Dr. Christian Stettler hat in Zürich, Tübingen und Erlangen Theologie studiert. Vikariat und Ordination in der Thurgauer Landeskirche. Assistenz in Tübingen, Promotion 2000 über den Kolosserhymnus. Stipendium des SNF in Cambridge, Oberassistenz in Zürich, Habilitation 2014 über das Endgericht bei Paulus.

2007-2016 teilte Christian Stettler mit seiner Frau Hanna eine Pfarrstelle in der reformierten Kirchgemeinde Gächlingen SH, seit 2016 in der reformierten Kirchgemeinde Flaachtal ZH.

Er lehrt als Privatdozent für Neues Testament an der Universität Zürich und als Titularprofessor für Neues Testament und antikes Judentum an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel.


1 Dieser Aufsatz wurde 2021 veröffentlicht in zwei Teilen als DOKU der Evangelisch-kirchlichen Vereinigung Zürich, https://evangelisch-zuerich.ch/downloads-2
2 Siehe Eberhard Busch, «Was heisst reformiert?» www.theologie-online.uni-goettingen.de/kw/busch.htm.

3 Siehe Christian Stettler, «Purity of Heart in Jesus’ Teaching», JTS 55, 2004, 467-502.

4 In Matthäus 7,12 umschreibt Jesus die Nächstenliebe mit der Goldenen Regel: «Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.» Auch hier fährt er fort: «Das ist das Gesetz und die Propheten.»

5 In den sog. «Antithesen» der Bergpredigt (Matthäus 5,21-48) vertieft und radikalisiert Jesus diese Gebote sogar.

6 Das Gebot der Gottesliebe nennt Paulus in Röm 13,8-10 und Gal 5,14 nicht, anderswo spricht er aber von den Christen als denen, «die Gott lieben» (Röm 8,28; 1Kor 2,9; 8,3).

7 1Kor 7,31; Gal 4,3.9-10; 6,12-14; Phil 3,19; Kol 2,8.20.23; 3,2. «Elemente» meint die Elemente, aus denen die materielle Welt zusammengesetzt ist (siehe Christian Stettler, Der Kolosserhymnus, Tübingen 2000, 70-71).

8 Zum Folgenden s. die Analyse von William J. Webb, Slaves, Women and Homosexuality: Exploring the Hermeneutics of Cultural Analysis, Downers Grove 2001.

9 Ähnlich 1. Korinther 12,13; Kolosser 3,11.

10 Ähnlich z. B. Matthäus 20,26-27; Johannes 13,14; Römer 12,10; Philipper 2,4.

11 So war die Abschaffung der Leibeigenschaft im Herrschaftsgebiet von Zürich und in Teilen Graubündens 1525 eine Frucht der Reformation. Das Verbot des Sklavenhandels im britischen Weltreich (1806) und in den anderen europäischen Kolonialmächten (1815) sowie das völlige Verbot von Sklaverei im britischen Weltreich (1833) war dem zähen Engagement von William Wilberforce und William Pitt aufgrund ihrer christlichen Überzeugung zu verdanken.

12 Siehe dazu Christian Stettler, Das Endgericht bei Paulus, Tübingen 2017, 184-187.

13 Nicht berücksichtigt sind hier übergreifende Begriffe: Ungerechtigkeit, Bosheit, Schlechtigkeit, Erfinder böser Dinge, Unverständige, Treulose.

14 «Unreinheit» meint hier wahrscheinlich illegitime Erotik in Gedanken, Worten und Verhalten.

15 Wörtlich: «Unzucht». Dieser Begriff umfasst im Neuen Testament jedes Ausleben von Sexualität ausserhalb der heterosexuellen Ehe und auch die verbotene Ehe zwischen nahen Verwandten gemäss 3. Mose 18,6-23; 19,29; 20,10-21; 5. Mose 23,18-19 (s. Hanna Stettler, Heiligung bei Paulus, Tübingen 2014, 230 mit Literaturhinweisen).

16 Wörtlich: «Lustknaben» und «Männer, die mit Männern schlafen». «Lustknaben» bezeichnet meist den «passiven» Part in einem homosexuellen Akt; «Männer, die mit Männern schlafen», eine Formulierung aus 3. Mose 18,22, bezeichnet ganz allgemein jede Form praktizierter männlicher Homosexualität (s. Richard B. Hays, The Moral Vision of the New Testament, Edinburgh 1996, 382-383). Römer 1,26 nennt auch praktizierte lesbische Sexualität (s. ebd. 383-389).

17 Peter Noll, Jesus und das Gesetz: Rechtliche Analyse der Normenkritik in der Lehre Jesu, Tübingen 1968 (wieder abgedruckt in: Hans Merz u. a., Hg., Abhandlungen grosser Juristen aus zwei Jahrhunderten mit einführenden Worten, Zürich 1991, 219-246).