«Fallgruben» in Predigten (Teil 4/4)

Der vierte und letzte Teil dieser Betrachtungen behandelt jene Fallgruben, die die grösste Versuchung für die Gemeinde Jesu darstellen. Sie sind besser getarnt als jene in Teil 1 bis 3. Es sind Fallgruben, die viel Wahres und Einleuchtendes aussagen; ja die das innerste des Evangeliums in kluge Worte fassen und sich als gesunde Nahrung für jeden Christenmenschen anpreisen. Darum brauchen wir umso mehr die Kraft des Heiligen Geistes, der aufdeckt, was verborgen liegt; der scheidet, was nicht dem Wort und dem Geist Jesu entspricht. Nur mit dem Schwert des Geistes, dem Wort Gottes, sind diese Gruben als solche auszumachen. 

Neunte Fallgrube: „Die Bibel ist doch so interessant!“

Aus der Versuchungsgeschichte Jesu lernen wir, dass der Widersacher Gottes auch ein Theologe ist. Er zitiert die Bibel (Matthäus 4,6) und stachelt damit Jesus an, Gott zu versuchen. Dieser Abschnitt ist der Christenheit als bleibende Warnung mitgegeben: Nicht jeder, der von der Bibel redet, meint damit das Wort Gottes! Darum darf die Gemeinde Jesu sich nicht täuschen lassen. Dies jedoch ist einfacher gesagt als getan.

Momentan werden die bibeltreuen Kreise im deutschsprachigen Raum eifrig umworben von Leuten, von denen man dies gar nicht erwartete. Theologen und Kirchenleitungen bemühen sich, diese „Frommen im Lande“ auf ihre Seite zu ziehen. Warum tun sie dies? Der Grund ist nicht schwer zu erraten: Die von ihnen seit Jahrzehnten geförderte moderne Theologie und Mainstream-Kirche zerfällt rasant. Es gibt kaum noch Gottesdienstgemeinden von diesem Zuschnitt. Und der Nachwuchs an Pfarrern und anderer kirchlicher Mitarbeiter aus diesen – sich modern gebenden – Milieus ist fast ganz versiegt. Somit sind die Frommen, die Pietisten, die Evangelikalen und kirchlich Konservativen der letzte Überrest, den es zu „missionieren“ gilt. Diese Kreise kann man jedoch nicht mit radikal-säkularen Argumenten überzeugen. Man muss ihre Sprache sprechen, an ihre Erfahrungen anknüpfen, um all dies danach mit neuem Inhalt zu füllen. Ehemaligen „Frommen“ (sie nennen sich nun „post-evangelikal“) öffnen sich auf einmal die Türen in kirchliche Gremien. Sie finden Anstellungen in kirchlichen Einrichtungen, wo man sie noch bis vor kurzem abgewiesen hätte. Nun aber tun sich für sie neue Welten auf, sofern sie sich theologisch und geistlich in der richtigen Art „weiter-entwickeln“. Dadurch werden sie zu neuen „Missionaren“, die die Sprache der Bibeltreuen bestens beherrschen. Sie rühmen die Bibel über alle Massen, so dass jedem Frommen das Herz schmilzt. Sie behaupten, die Botschaft der Heiligen Schrift liesse sich versöhnen mit den Wünschen der gegenwärtigen Generation: „Schreit denn nicht alle Welt nach Hoffnung und Zuversicht und wir könnten sie ihr geben! Liegt es nicht an uns, die gesellschaftlichen Veränderungen mit Bibelworten zu moderieren? Ist es nicht der Heilige Geist selber, der aus lauter Liebe mit dem Geist dieser Welt einen Dialog auf Augenhöhe führt und mit ihm kooperiert? Wie könnte der Christ sich da hartherzig verschliessen und noch von Umkehr und Busse, von Verlorenheit und vom Jüngsten Gericht reden?“ Zahlreiche - von ihrer Herkunft her - bibeltreue Institutionen und Werke sind momentan daran, sich diesem „neuen“ Evangelium zu „öffnen“. Es geschieht an den meisten Orten nicht als Folge einer gezielten Unterwanderung. Vielmehr ist es die Folge einer tiefsitzenden Resignation gegenüber dem aggressiv auftretenden Zeitgeist. Man sieht keine andere Überlebenschance mehr für das eigene Werk, als sich diesem neuen geistigen Klima anzupassen. Dass dadurch viele treue Christen und bekennende Gemeinden verraten werden, ist eine traurige Entwicklung. Diese Vorgänge aufzudecken ist zwar eine undankbare Aufgabe, doch wir sollen um Jesu Willen nicht feige davor zurückweichen.

Im Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia sagt ihnen der auferstandene und erhöhte Christus: „Ich komme bald. Halte fest, was du hast, damit niemand dir die Krone wegnimmt!“ (Offenbarung 3,11) 

Zehnte Fallgrube: „Hauptsache, Christus ist in der Mitte!“

Warum findet diese Aussage ihren Platz in dieser Aufzählung der zu vermeidenden Fallgruben? Am Wortlaut dieses Bekenntnisses ist nichts auszusetzen. Und es ist sogar jeder Kirche dringendst ans Herz zu legen, dies zu bezeugen. Es ist ihr kostbarster Schatz. So grossartig dieses Bekenntnis auch ist – in unseren Tagen haftet ihm etwas Schillerndes an. Dient es dazu, etwas zuzudecken, das man nicht sehen soll? Will es unsern Blick von Jesus weg auf ein hehres Prinzip lenken?

Stellen wir uns folgendes vor: Ein Gottesdienstbesucher wird während der Predigt von einem unguten Gefühl beschlichen. Der von der Kanzel verkündigte Christus wirkt auf ihn befremdlich. Die Beschreibungen sind zwar angenehm und gelehrt. Doch irgendwie scheint ihm dieser Christus wenig verwandt mit der Botschaft der Bibel. Nun nimmt er nach dem Gottesdienst all seinen Mut zusammen und äussert gegenüber dem Verkündiger sein Unwohlsein. Elegant wird nun sein Verdacht ausgeräumt mit dem Hinweis: „Hauptsache, Christus ist in der Mitte!“ Bei allem andern solle man doch bitte nicht so kleinlich sein. Man würde sonst sehr schnell beim Richten und Verurteilen landen und diesen Ruf wolle man sich als Kirche doch nicht einhandeln. Dieses rhetorische Verteidigungsfeuer und der flinke Hinweis auf das hehre Prinzip – „Christus ist in der Mitte!“ – lassen ihn ratlos zurück. Verbirgt man etwas vor ihm? Gibt es Dinge, die er nicht fragen und demzufolge auch nicht wissen sollte? Wurde hier am „theologischen Betriebssystem“ eine Änderung vorgenommen, die der „kirchliche Normalverbraucher“ nicht wissen sollte? Aufschluss über diese Fragen gibt uns der Blick auf die Geschichte des westlichen Protestantismus der letzten 200 Jahre. In dieser langen Epoche hat die Theologenschaft verschiedene „Christusse“ konzipiert – manche davon stehen in eklatantem Widerspruch zum Zeugnis der Heiligen Schrift. Zum einen sprach man Jesus Christus seine Göttlichkeit ab: Jesus als Naturfreund, Jesus als Pazifist, Jesus als Lehrer, als Coach; Jesus als Geburtshelfer, der das aus uns herausholt, was schon immer in uns bereit lag. Kann und soll man zu diesem Jesus beten, vor ihm die Knie beugen? Nein, das ist nicht nötig, sogar überflüssig! Höchstens aufschauen zu ihm kann man, so wie jemand zu einem Vorbild aufschaut.

Zum andern sprach man Jesus Christus sein Erlösungswerk ab: „Jesus ist nicht Vollbringer des Heils für uns, sondern in ihm finde sich die Verkörperung des Guten und des Wünschenswerten. In Christus verwirkliche sich das Menschsein, so wie es gemeint sei. Christus sei Urgrund aller Weltreligionen, da er alles verkörpere, was andere Weltanschauungen und religiöse Kulte anstrebten (sozusagen das ‚Weltethos‘, wie es der verstorbene katholische Theologe Hans Küng propagierte).“ Oder: „Christus sei der Ruf in die wahrhaftige menschliche Existenz – also einer, der uns offenbare, zu was wir Menschen fähig sind.“ Kann dieser Christus uns von Schuld und Sünde befreien? Nein, dies ist nicht sein Metier, denn er ist mehr Prinzip als Person, mehr Wunschbild als reale Vollmacht. Damit wird alles Reden von Christus zum armseligen Versuch, eine Menge von Gedanken und Wünschen in diesen Namen hineinzutragen.

Daraus ersehen wir: Es liegt ein ganzes Arsenal von „Christussen“ bereit, denen sich der Verkündiger bedienen kann. In der Praxis tauchen meist Mischformen auf, die solche „modernen“ Jesusbilder mit biblischen Aussagen tarnen. So gesehen wird das Motto „Hauptsache, Christus ist in der Mitte!“ zu einer Schutzformel für Theologen, die sich nicht in die Karten blicken lassen wollen. Damit werden problematische Vermischungen zugedeckt, vor allem jene, bei der humanistische Weisheit in den biblischen Jesus Christus „hineintransportiert“ wird. Jesus selber warnte uns vor solchen Verführungen: „Wenn dann einer zu euch sagt: Da ist der Christus oder dort, so glaubt es nicht!“ (Matthäus 24,23)

Die Christenheit hat sich bereits in den ersten Jahrhunderten der heilsamen Medizin der gesunden Lehre bedient. Sie hat in ihren ältesten Glaubensbekenntnissen um die Ganzheit des biblischen Jesus Christus gerungen. Mit diesen Grundtexten der christlichen Kirche hat sie sich erfolgreich zur Wehr gesetzt gegen jegliche Verfälschung der Person Jesu. Das Apostolische Glaubensbekenntnis (das älteste der Christenheit) sagt es so: „…und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch…“. Und das zweite Bekenntnis der Christenheit (jenes aus dem 4.Jahrhundert von Nizäa-Konstantinopel) bezeugt Jesus Christus noch prägnanter: „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott und wahrer Mensch, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater…“. Was in der Ursprungszeit der Kirche heilsam und nützlich war, ist es erst recht in unseren stürmischen und verwirrenden Zeiten. Es ist eine segensvolle Sache – für jeden Christen und für die Kirche –, sich wieder auf diese Bekenntnisse der Christenheit zurückzubesinnen. Wie ein Fels in der Brandung stehen sie da. Sie geben bleibende Orientierung und lenken unsern Blick auf das, was die Heilige Schrift uns bezeugt.

Zum Autor

Pfr. Willi Honegger ist Pfarrer in Bauma ZH.