Kritisiert Jesus das Alte Testament?

Auseinandersetzung zu einer These von Martin Benz

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Martin Benz argumentiert in seinem Buch «Wenn der Glaube nicht mehr passt», dass man das Alte Testament von Jesus her (und mit Jesus) kritisieren soll. Dieser Beitrag [1] ist eine Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen, mit denen er diese These begründet.

Unter dem Titel «Der Glaube hat mir noch nie gepasst» hat Peter Bruderer eine ausführliche Antwort auf das Buch von Martin Benz geschrieben. Ich selber habe eine kürzere Rezension für Livenet verfasst.

Martin Benz arbeitet in seinem Buch mit Beispielen, die sein Bibelverständnis begründen und nachvollziehbar machen. Ich möchte hier einige solche Beispiele herausgreifen, die zentral sind für seine Argumentation, und darlegen, wo die argumentativen Schwächen seiner Auslegung sind und wie eine bessere Auslegung aussehen kann.

Selektive Bibeltreue

Martin Benz kritisiert (durchaus mit gewisser Berechtigung), dass manche Christen, die sich als «bibeltreu» bezeichnen und von sich behaupten, die ganze Bibel wörtlich zu nehmen, in Wirklichkeit ziemlich selektiv darin sind, was sie wörtlich nehmen und was nicht.

Ein solches Beispiel für selektive Bibeltreue ist nach Benz (S.52), wenn man das Wort Jesu über Scheidung und Wiederheirat in Matthäus 5,32 wörtlich versteht (wie er es versteht, verrät er uns nicht), nicht jedoch das Wort über das Ausreissen des Auges drei Verse zuvor.

Ironischerweise erzählt er einige Seiten später in anderem Zusammenhang (S.67), wie ein guter Freund ihm per SMS die Geburt seines ersten Kindes mit Gewicht, Geburtszeit und Namen des Kindes mitteilte und dann sagte: «Es ist, als ob die Sonne in meinem Herzen aufgegangen ist». Benz braucht das Beispiel, um faktische und poetische Wahrheit zu unterscheiden. Tut er hier aber nicht das, was er vorher den Bibeltreuen vorwirft? Eine Aussage versteht er wörtlich, die andere metaphorisch, obwohl sie sich auf den gleichen Kontext beziehen. Geht er selektiv vor, wenn er eine Aussage wörtlich, die andere übertragen versteht? Natürlich nicht! Sein eigenes Beispiel zeigt, dass wörtliche und bildliche Rede auch im Alltag direkt nebeneinander stehen können und dass es durchaus möglich ist, das Eine vom Andern zu unterscheiden, ohne dass diese Unterscheidung dadurch völlig subjektiv wird.

Wenn man unter «wörtlich nehmen» meint, dass es keine bildliche Rede, keine Metaphern, usw. gibt in der Bibel, dann ist das natürlich Unsinn. Ebenso unsinnig ist es aber, zu behaupten, man müsse in einem Textzusammenhang entweder alles wörtlich oder alles bildlich nehmen. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist ständig beides miteinander verwoben und selbst sprachlich nicht besonders gut gebildete Menschen sind durchaus in der Lage, das eine vom anderen zu unterscheiden, auch wenn es natürlich auch Missverständnisse geben kann. In der Kommunikation sind Missverständnisse aber die Ausnahme, die die Regel bestätigen.

Entwicklung in der Bibel

Wenn Benz von «Entwicklung in der Bibel» redet, dann meint er nicht das Konzept der fortschreitenden Offenbarung in dem Sinne, dass wahre Erkenntnis über Gott schrittweise enthüllt wird. Vielmehr meint er damit, dass wir am Anfang der Bibel viele Fehlaussagen von und über Gott finden, die dann in einer innerbiblischen Entwicklung kritisiert und korrigiert werden. Dafür nennt er vier Beispiele, von denen mich keines überzeugt:

Beispiel 1: Vergeltungsrecht (S.75–78)

In diesem Beispiel geht es im Kern darum, dass Gott sich laut Benz in Jesus Christus offenbart hat als ein Gott, der kategorisch auf Rache verzichtet. Texte im Alten Testament, die von Gottes Rache handeln, seien durch Jesus in der Bergpredigt kritisiert und richtiggestellt (was mit Texte der Rache Gottes im Neuen Testament ist, bleibt offen).

Benz beginnt in Gen 4:14–15. Da habe Gott bestimmt, dass Kain siebenfach gerächt werden soll, falls ihn jemand tötet. Lamech erhöhe die Rache in Gen 4:23–24 auf das siebenundsiebzigfache, bis Gott dann in Lev 24:19–20 die Rache eingrenze. Neu gelte nun, dass nur einfache Rache erlaubt sei (ein Leben für ein Leben). Jesus fordere in der Bergpredigt (Mt 5:38–39) schliesslich, ganz auf Vergeltung und Rache zu verzichten. In der Logik von Benz bedeutet dies, dass die Gottesrede zur siebenfachen Rache Kains ein falsches Gottesbild vermittelt, das von Jesus in der Bergpredigt korrigiert wird. Gott würde nie siebenfache Rache fordern, weil er uns in Jesus gezeigt hat, dass er nicht so ist.

Diese Auslegung hat mehrere Mängel. Ganz grundsätzlich muss man unterscheiden, wer sich denn eigentlich rächen darf und wer nicht. Paulus schreibt in Rö 12:17: «Rächt euch nicht selbst, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes». Für Paulus ist es ein Unterschied, ob Menschen Rache üben, oder ob sie die Rache Gott überlassen und damit «feurige Kohlen» auf das Haupt ihrer Feinde sammeln (Rö 12:20). Ähnlich schreien die Seelen der Märtyrer in Offb 6:9–10 zu Gott: «Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?» Dieses Schreien der Seelen der Märtyrer spielt an auf das Schreien des Blutes Abels, von dem Gott in Gen 4:10 zu Kain sagt: «Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.»

Hier sind wir nun bei dem entscheidenden Punkt: Wenn Gott daraufhin an Kain ein Zeichen macht und sagt: «Wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden», so ist das keine Aufforderung zur siebenfachen Rache, sondern ein Racheverbot für die Menschen! Kain hat Abel ermordet und Gott verbietet es, dass irgendjemand Kain tötet, um Abel zu rächen. Das Kainszeichen ist als Siegel zu verstehen: Kain ist damit als Eigentum Gottes markiert. Allein Gott darf Kain bestrafen, die Menschen dürfen es nicht. Das ist dasselbe, was Paulus in Römer 12 schreibt: «Rächt euch nicht selbst!»

Warum verbietet Gott menschliche Rache und schützt Kain? Weil nach dem vergossenen Blut Abels kein weiteres Blut vergossen werden soll. Das Blutvergiessen soll sofort gestoppt werden. Kurzerhand erklärt Gott Kain zu seinem Eigentum, damit es kein weiteres Blutvergiessen gibt und die Ermordung Abels ein Einzelfall bleibt. Die Androhung siebenfacher Rache ist keine Aufforderung an die Menschen, dass sie, wenn jemand Kain tötet, sieben Familienmitglieder dieses Mörders umbringen sollen, wie die von Benz zitierte GNB sachlich falsch übersetzt. Mit der siebenfachen Rache bringt Gott zum Ausdruck, dass durch Menschen unter keinen Umständen weiteres Blut vergossen werden darf, weil Gott selbst (das zeigt die Siebenzahl) eingreift.

Der weitere Verlauf der Geschichte zeigt, wohin das Racheverbot führt: Kain verbarrikadiert sich in den Mauern einer selbstgebauten Stadt, seine Nachkommen schmieden Waffen und Lamech vergilt sieben Generationen später schon eine ihm zugefügte Wunde mit dem Tod. Die siebenundsiebzigfache Rache Lamechs zeigt die Selbstvergottung der Kainsnachkommenschaft. Gerade das Racheverbot führt zu einer Gewaltanhäufung, weil dem bösen Herzen kein Einhalt geboten wird. Genesis 4 ist ein Lehrstück darüber, dass das Böse sich nicht in Luft auflöst, wenn ihm mit Barmherzigkeit begegnet wird. Das Land wird mit Blutschuld gefüllt, bis die Sintflut die blutgetränkte Erde reinwäscht. Schon nach der Sintflut, nicht erst in Levitikus 24, begrenzt Gott die ausufernde Gewalt durch Aufhebung des Racheverbotes: «Wer Menschenblut vergiesst, dessen Blut soll um des Menschen willen vergossen werden» (Gen 9:6).

Das alles ist keine innerbiblische Entwicklung, sondern eine zusammenhängende Erzählung der ersten Kapitel der Bibel, die uns zeigt, wie Gott zunächst das Blutvergiessen stoppt, indem er selbst Kain schützt, wie Kain und seine Nachkommen diesen Schutz aber missbrauchen, um eine Gewaltherrschaft aufzurichten, so dass Gott schliesslich nach der Flut den Menschen das Mandat gibt, Mörder zu bestrafen. Dass Menschen, Menschen bestrafen sollen, ist ein Notrecht, das der Gewalteindämmung dient. Der eigentliche und letzte Richter ist Gott selbst.

Wenn Jesus und Paulus dazu auffordern, sich nicht zu rächen, dann führt das gerade zu Kain zurück, wo die Rache noch ausschliesslich Gottes Sache ist und nicht Sache der Menschen. Doch die Bergpredigt ist keine Anweisung an staatliche Institutionen, so dass Jesus in Anschluss an Gen 9,6 auch die Notordnung in Erinnerung rufen kann: «Wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen» (Mt 26:52; vgl. Rö 13:4).

Beispiel 2: Schuld der Vorfahren (S.78–80)

Hier stellt Benz zwei alttestamentliche Texte nebeneinander, nämlich das zweite Gebot (Ex 20:5), wo Gott sagt, dass er die Schuld der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die ihn hassen, und Hesekiel 18:20, wo Gott sagt, dass der Sohn nicht die Schuld des Vaters und der Vater nicht die Schuld des Sohnes, sondern jeder seine eigene Schuld tragen soll. Es ist die Antwort Gottes an das Volk, das im Angesicht der babylonischen Eroberung Jerusalems klagt, Gott würde sie für die Schuld ihrer Väter bestrafen.

Die Frage ist hier, was es mit der dritten und vierten Generation auf sich hat. Ex 20:5 ist sicher falsch verstanden, wenn daraus geschlossen würde, dass Gott irgendeinen Fluch auf die Nachkommen von götzendienerischen Eltern legt und sie für die Sünde der Eltern bestraft. Um die Stelle angemessen zu verstehen, sollte man berücksichtigen, dass damals, anders als heute, eine Familie aus drei bis vier Generationen besteht, die zusammen unter einem Dach leben. Wenn der «Pater Familias» gottlos lebt, dann haben darunter drei bis vier Generationen gleichzeitig zu leiden.

Am besten kann man das in Levitikus 25 veranschaulichen. Dort wird uns geschildert, wie ein Israelit in mehreren Stufen verarmt. Die letzte Stufe ist, dass er seinen Landbesitz und sein Haus verliert und als Knecht für einen anderen Israeliten arbeiten muss. Bevor dies geschieht, wird er bereits seine Kinder dem Gläubiger in die Knechtschaft geben. Die ganze Mehrgenerationenfamilie leidet unter der Misswirtschaft. Levitikus 25 gibt aber auch Anweisungen für ein Jubeljahr: Alle 50 Jahre soll jede Familie wieder zu ihrem Hab und Gut kommen. In diesen 50 Jahren findet ein Generationenwechsel statt. Eine neue Generation, d.h. ein neuer Drei- oder Viergenerationenhaushalt soll neu beginnen können.

Ex 20:5 muss weisheitlich verstanden werden. Eine Tat ist wie das Aussäen eines Samens. Sie trägt in sich Fluch oder Segen, sie bringt eine Frucht hervor, eine ungeniessbare oder eine geniessbare. Wo der Vater einer Mehrgenerationenfamilie sich dem Götzendienst zuwendet, da wird der ganze Haushalt von den Folgen getroffen. Nicht, weil Gott anfängt, die unschuldigen Kinder zu verfluchen und zu töten, sondern weil die Tat des Übeltäters selber diese Reichweite hat.

Dagegen stellt Gott in Ex 20:6, dass Gott Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die ihn lieben und seine Gebote halten. Das sollte wiederum nicht so verstanden werden, dass Gott zuerst vier Generationen bestraft und ab der fünften Barmherzigkeit erweist. Vielmehr ist schon in diesen vier Generationen, sogar für den Sünder selber, Barmherzigkeit möglich. Die sündhafte Tat reicht über drei bis vier Generationen, doch die Barmherzigkeit Gottes ist viel grösser und wendet sich allen zu, sogar den bussfertigen Sündern.

Es ist nichts anderes, was Hesekiel in Hesekiel 18 sagt (auch wenn er aufgrund einer anderen Fragestellung etwas andere Akzente setzt): «Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?» In Ex 20:5–6 wie auch in Hesekiel 18 geht es viel weiter als bloss bis zur Aussage, dass Sünde bestraft wird: Nämlich dass sich die Barmherzigkeit jedem, der sich bekehrt von seinen Wegen, jedem, der sich nach den Geboten Gottes ausrichtet, erweist.

Auch der Sündenfluch, von dem mehrere Generationen getroffen werden können, ist damit kein unentrinnbares Schicksal. Wir sehen es in der Tora selber und brauchen dafür nicht das Hesekielbuch: Die erste Generation des Auszugs aus Ägypten darf nicht in das verheissene Land. Würde man Ex 20:5–6 so verstehen, wie Martin Benz das tut, dann dürften drei bis vier Generationen nicht ins verheissene Land. Doch schon die zweite Generation darf in das verheissene Land, denn Gott sagt zu der sündigen Generation: «Eure Säuglinge … und eure Kinder, die jetzt weder Gutes noch Böses verstehen, die sollen hineinkommen; ihnen will ich es geben, und sie sollen es besitzen» (Deut 1:39). So formuliert das Deuteronomium schon vor Hesekiel: «Die Väter sollen nicht für die Kinder noch die Kinder für die Väter sterben, sondern ein jeder soll für seine eigene Schuld sterben» (Deut 24:16). Gott bestraft schon in der Tora nicht die Kinder für die Schuld der Eltern. Trotzdem können Kinder unter der Schuld der Eltern leiden, weil die Eltern mit ihrer Sünde eine ganze Mehrgenerationenfamilie schädigen können.

Beispiel 3: Gott oder Satan? (S.80–83)

Das dritte Beispiel geht aus von einem Vergleich von 2Sam 24:1 und 1Chr 21:1. Beide erzählen dieselbe Geschichte, in 2Sam 24:1 sagt allerdings Gott zu David, er solle eine Volkszählung machen, in 1Chr 21:1 sagt es der Satan. Die Samuelbücher sind älter als die Chronikbücher und so geht Martin Benz davon aus, dass es in der Zeit der Samuelbücher den Satan noch gar nicht gab, dass der aus der Religion Zarathustras ins Judentum aufgenommen worden sei und somit die Möglichkeit geboten habe, die Versuchung der Volkszählung dem Satan anstatt Gott zuzuschreiben und damit 2Sam 24:1 zu korrigieren.

An dieser Argumentation von Benz ist ziemlich vieles ziemlich falsch. Erstens spricht er davon, dass bis in die Zeit der babylonischen Gefangenschaft in Israel ein strenger und konsequenter Monotheismus geherrscht habe. In der historisch-kritischen Forschung ist das Gegenteil die Mehrheitsmeinung: Der Monotheismus sei erst im babylonischen Exil entstanden. Wie man das auch beurteilt: Die vorexilischen Texte reden unbekümmert von einem Thronrat Gottes, von einer Götterversammlung, in der auch andere himmlische Wesen als Götter bezeichnet werden (siehe z.B. Ps 82:1).

Zweitens kann das Judentum im babylonischen Exil nicht mit der Religion Zarathustras in Verbindung kommen, weil das keine babylonische, sondern eine persische Religion ist und die Juden erst nach dem Exil mit den Persern in Kontakt kommen (der Perserkönig Kyrus, der aber kein Anhänger der Religion Zarathustras war, beendete das babylonische Exil). Überhaupt ist die Annahme einer Beeinflussung des Judentums durch die Religion Zarathustras sehr spekulativ und wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet, doch das kann ich hier nicht ausführen.

Drittens, und das führt nun zum Kern der Sache, behauptet Martin Benz: «In der gesamten Tora findet sich keine einzige Erwähnung des Satans» (S.82). Das ist falsch. Das Wort «Satan» findet sich zweimal in der Tora, nämlich in der Bileamsgeschichte in Numeri 22. In Vers 22 lesen wir, als Bileam auf seiner Eselin unterwegs ist, um Israel zu verfluchen: «Und der Engel des HERRN stellte sich ihm entgegen als Satan».

Der kürzlich verstorbene Alttestamentler Michael Heiser hat sich ausführlich mit der unsichtbaren Welt im Alten Testament befasst, mit den Engeln, den «Göttern» aus Psalm 82 (und anderswo, z.B. auch im Hiobbuch), mit den guten und bösen Mächten der unsichtbaren Welt und eben auch mit dem Teufel. Er hat dazu drei ausgezeichnete Bücher geschrieben, auf die ich gerne alle verweise, die sich damit ausführlicher befassen wollen: The Unseen Realm (2015), Angels (2018) und Demons (2020).

Um es kurz zu machen: Satan ist, anders als im Neuen Testament, im ganzen Alten Testament kein Eigenname, sondern eine Funktion. Darum kann sogar der Engel des HERRN als Satan, als Widersacher, auftreten. Heiser schreibt in seinem Buch Demons zu 1Chr 21:1 (S.80; eigene Übersetzung aus dem Englischen):

Wer stiftete David an – Satan oder Jahwe? Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs ist überraschend einfach. In Num 22:22.32 ist es der Engel des HERRN, der den Weg Bileams und seines Esels versperrt. Der Engel dient als Jahwes «Widersacher» (Satan), um sich Bileam entgegenzustellen. Der Engel war in der Tat ein göttlich erwählter Gegner. Zudem habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt, dass dieser spezifische Engel Jahwe in menschlicher Erscheinungsform war.

Im Lichte des entsprechenden Berichtes in Numeri 22 sollte 1Chr 21:1 folgendermassen übersetzt werden: «Und ein Widersacher stellte sich gegen Israel…». Dieser Widersacher wird in beiden Texten später als Engel Jahwes identifiziert (1Chr 21:14–15 ; 2Sam 24:15–16). Wenn, wie in anderen alttestamentlichen Texten ersichtlich, Jahwe und sein Engel miteinander identifiziert werden oder ihre unterschiedlichen Identitäten verwischt wurden (z.B. Gen 48:15–16; Exodus 3, Richter 6), dann gibt es keinen Widerspruch zwischen den Texten. Der Engel und Jahwe können miteinander identifiziert werden. Die Antwort auf die Frage, wer David angestiftet hat, ist in beiden Berichten «Jahwe».

Beispiel 4: Wessen Geistes Kinder sind wir? (S.83–85)

Hier vergleicht Martin Benz 2. Könige 1 mit Lk 9:51–55. Als in 2. Könige 1 der König Ahasja zweimal einen Soldatentrupp gegen den Propheten Elia schickt, antwortet Elia zweimal: «Bin ich ein Mann Gottes, so falle Feuer vom Himmel und fresse dich und deine fünfzig Mann», was beide Male geschieht. In Lk 9:51–55 wird kein Soldatentrupp gegen Jesus geschickt, sondern Jesus und seine Jünger werden in Samaria lediglich nicht aufgenommen. Da fragen Jesu Jünger: «Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre?»

Jetzt wird es ein bisschen kompliziert: Martin Benz zitiert eine ziemlich exotische Ausgabe der Lutherbibel, nämlich die Ausgabe von 1964. Dies tut er, weil ein Teil dessen, was er zitiert, sich in Luther 1984 und Luther 2017 nicht findet. Es sind Textzusätze, die in den ältesten griechischen Handschriften des Neuen Testaments nicht enthalten sind und die daher vermutlich nicht zum ursprünglichen Lukasevangelium gehört haben. Ich stelle hier zum Vergleich die von Benz zitierte Luther 1964 und die aktuelle Luther 2017 nebeneinander und markiere die späteren Zusätze kursiv:

LUT 1964
Da aber das seine Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: «Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und verzehre sie, wie auch Elia tat.» Jesus aber wandte sich und bedrohte sie und sprach: Wisst ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.»

LUT 2017
Als aber das die Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre. Er aber wandte sich um und bedrohte
 sie.

Martin Benz fasst zusammen: «Indem Jesus seine Jünger tadelt und sie daran erinnert, wessen Geistes Kind sie sind, wird deutlich, dass das Handeln des Elia im Alten Testament gerade nicht dem Geist Gottes entspringt, obwohl es so ausdrücklich in der Bibel beschrieben wird. … Diese alttestamentliche Geschichte atmet nicht den Geist Gottes. Und trotzdem steht sie in der Bibel.»

Es wäre wünschenswert, wenn Benz hier transparent machen würde, dass er das Hauptgewicht seiner Argumentation auf eine Passage legt, die im ursprünglichen Lukasevangelium gar nicht enthalten war. Aber selbst wenn wir vom Text in Luther 1964 ausgehen, ist seine Argumentation ziemlich unsorgfältig.

Zunächst kommentiert er die Frage der Jünger, ob sie nicht sagen sollen, dass Feuer vom Himmel falle, mit folgenden Worten: «Sinnvoll! Ist logisch! Total biblisch! Doch die Reaktion Jesu spricht Bände und zeigt ein weiteres Mal die gravierende Weiterentwicklung innerhalb der Bibel selbst.» Selbst auf dieser Ebene ist es überhaupt nicht sinnvoll, logisch und total biblisch. Bei Elia geht es um einen Soldatentrupp, der gegen ihn ausgesendet wird, bei den Jüngern nur darum, dass sie in der Herberge nicht aufgenommen werden. Die Situationen sind in keiner Weise vergleichbar, die Frage der Jünger völlig unverhältnismässig.

Direkt im nächsten Kapitel des Lukasevangeliums wird uns berichtet, wie Jesus 72 Jünger aussendet und ihnen sagt, wie sie sich verhalten sollen. Für den Fall, dass sie nicht aufgenommen werden, sagt Jesus zu ihnen (Lk 10:10–12):

Wenn ihr aber in eine Stadt kommt und sie euch nicht aufnehmen, so geht hinaus auf ihre Strassen und sprecht: Auch den Staub aus eurer Stadt, der sich an unsre Füsse gehängt hat, schütteln wir ab auf euch. Doch sollt ihr wissen: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Ich sage euch: Es wird Sodom erträglicher ergehen an jenem Tage als dieser Stadt.

Was ist gleich nochmals mit Sodom geschehen? Gen 19:24 gibt uns die Antwort: «Da liess der HERR Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra». Hat Jesus in Lukas 10 schon vergessen, was er in Lukas 9 gesagt hat? Oder müssen wir vielleicht Lukas 9 anders verstehen, als Benz vorschlägt?

Ich meine, wir müssen Lukas 9 anders verstehen und dazu sollten wir die Antwort, die Jesus (in den später hinzugefügten Versen) gibt, sorgfältig lesen: «Wisst ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.» Jesus begründet seine scharfe Ablehnung nicht damit, dass Elia falsch gehandelt hat, sondern damit, dass er sie an seine Sendung erinnert. Jesus ist nicht Elia, Jesus ist kein Prophet. Jesus hat eine bestimmte Sendung, nämlich sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.

Im Garten Gethsemane sagt Jesus, dass er den Vater um zwölf Legionen Engel bitten könnte, und er würde sie sogleich schicken. Warum tut es Jesus nicht? Weil er den bitteren Kelch des Todes trinken muss. Er muss sterben. Elia musste nicht sterben. Elia hatte eine andere Sendung, er war nicht der Menschensohn, er war ein Prophet. Jesus ist kein Prophet. «Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin», denkt der Pharisäer Simeon in Lk 7:39. Aber Jesus ist kein Prophet. Er vergibt ihr die Sünden. Jesus fragt seine Jünger: «Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei?» (Mt 16:13). Die Antwort: «Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten». Doch Jesus ist kein Prophet. Er ist «Christus, des lebendigen Gottes Sohn!» Als Petrus dies ausspricht, antwortet Jesus: «Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.»

Kurzum: Jesus handelt nicht wie Elia, weil er nicht Elia ist. Er ist kein Prophet. Er ist der Menschensohn und er ist Gottes Sohn. Er hat eine andere Sendung. Würde er zu Gewalt greifen, um seine Feinde zu besiegen, anstatt sich von ihnen besiegen zu lassen, dann wäre seine Sendung gescheitert. Dann hätte er der Versuchung nachgegeben, den Teufel anzubeten, um alle Reiche der Welt mit ihrer Macht und Herrlichkeit zu empfangen (Lk 4:5–8). Aber Jesus ist nicht dieses Geistes Kind, er lässt sich vom Teufel nicht einmal überlisten, wenn dieser ihn durch Petrus von seinem Leidensweg abhalten möchte (Mt 16:21–23).

Das Apostelkonzil und die Bedeutung der Tora (S.149–151)

Benz nimmt das Apostelkonzil (Apostelgeschichte 15) als Kronzeugen dafür, dass die alttestamentlichen Gesetze keine Rolle spielten bei der apostolischen Entscheidung, den Heidenchristen das Halten der Tora zu erlassen. Stattdessen hätten sie auf den Heiligen Geist gehört. Dass sie auf den Heiligen Geist gehört haben, ist richtig, aber mithilfe des Heiligen Geistes haben sie eben die Tora studiert und zwar mit der Frage, was die Tora selber zu ihrer Fragestellung sagt. Innerhalb der Tora haben sie vier Verbote gefunden, die laut Tora nicht nur den Israeliten, sondern explizit auch den Fremden, die in Israel leben, gelten. Das sind Götzendienst (siehe Lev 20:2), Unzucht (siehe Lev 18:26 als Abschluss der Gebote zu Unzucht) und Aas- und Blutgenuss (siehe Lev 17:10–16). Das Apostelkonzil in Apostelgeschichte 15 belegt damit gerade das Gegenteil dessen, wofür Benz es anführt: Es belegt, dass die Apostel bei der neu aufkommenden Frage zum Umgang mit Heidenchristen zuerst in der Tora nach Antworten gesucht haben und dass sie da auch fündig geworden sind. Natürlich nicht durch blosses selektives Zitieren einzelner Bibelstellen, sondern durch eine konsistente Auslegung und weisheitliche Anwendung des von Alters her offenbarten Gotteswillens auf eine neue Situation.

Fazit: Nein, Jesus kritisiert das Alte Testament nicht

Über die Christen in Beröa lesen wir bekanntlich in Apg 17:11, dass sie die Verkündigung von Paulus und Silas über Jesus bereitwillig aufnahmen «und forschten täglich in der Schrift, ob es sich so verhielte». Die Schrift ist damals noch das Alte Testament. Am Alten Testament muss sich Jesus als der Messias erweisen. Martin Benz sagt umgekehrt, wir sollten die Schrift an Jesus prüfen und von Jesus her die Geister im Alten Testament unterscheiden. Wenn er mit Jesus den Jesus der Evangelien meint, so kann ich ihm in den Beispielen, die er vorbringt, nicht folgen, weil sie Jesus nur selektiv zu Wort kommen lassen, weil zu viele voreilige Schlüsse gezogen werden und weil die Art und Weise, wie Benz mit dem Alten Testament umgehen möchte, nicht die Art und Weise ist, wie Jesus selber und die Apostel mit dem Alten Testament umgegangen sind.

Zum Autor

Benjamin Kilchör ist Professor für Altes Testament an der STH Basel. Er betreibt auf Youtube den Kanal «Lectio Continua» (Fortlaufende Lektüre). Dort erläutert er Vers für Vers die Bibel, angefangen in Genesis 1,1.



[1] Dieser Artikel erschien zuerst am 17. Mai 2023 auf Daniel Option, Theologie – Gesellschaft – Glaube (https://danieloption.ch/featured/kritisiert-jesus-das-alte-testament/) und erscheint nun mit freundlicher Genehmigung des Autors unverändert auch als Beitrag auf Netzwerk Bibel und Bekenntnis Schweiz.