«reformiert» - aber wie denn?

«Reformiert – selber denken» - das Motto ist zwar etwas angejahrt. Der damalige Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) wollte mit dieser Aussage das spezifisch Reformierte hervorheben: «Selber denken». Die Reformierten seien – im Gegensatz zu den Katholiken eben autonom, auf kein Lehramt angewiesen und auch im Glauben nicht auf ein äusseres Wort angewiesen. Sie denken eben selber. Abgesehen davon, dass dieses Motto ziemlich arrogant ist, wenn man die Denkleistungen in anderen Konfessionen zur Kenntnis nimmt: Stimmt das Motto? Macht es das Reformiertsein aus?

Wenn wir eine Bezeichnung wie «reformiert» verwenden, ist es nichts als redlich, zu fragen, was denn die Reformatoren, auf welche sich unsere Kirchen dem Namen nach beziehen, unter «reformiert» verstanden haben.

Ich möchte das kurz anhand von Heinrich Bullinger tun. Bullinger (1504-1575) war der Nachfolger von H. Zwingli. Er hat die Schweizer Kirchen und darüber hinaus die europäischen Kirchen massgeblich gestaltet und beeinflusst. Gerade lese ich seine sogenannten «Dekaden». Das sind Lehrpredigten, die er verfasste, um den reformierten Pfarrern das Rüstzeug zu geben für ihren Predigtdienst. Sie sind eine eigentliche Glaubenslehre. Bullinger schreibt über die Autorität der Heiligen Schrift, das Apostolische Glaubensbekenntnis, die 10 Gebote und viele andere fundamentale Themen des christlichen Glaubens. Dabei bezieht sich Bullinger strikt auf das Bibelwort, das er in vertrauensvoller Haltung auslegt. Die Bibel ist ihm als Ganzes «Heilige Schrift», also Gottes Wort.

Es ist ein grosser Gewinn, dass der Theologische Verlag Zürich 2006 in 7 Bänden die Schriften von Heinrich Bullinger in moderner deutscher Sprache herausgegeben hat. Nun kann man das tun aus rein historischem Interesse. Das ist in unserer geschichtsvergessenen Zeit auch schon viel wert. Doch könnte das Studium dieses reformierten Kirchenvaters uns heute zeigen, was denn «reformiert» ist. Wir würden erkennen, dass «reformiert» gewiss mehr ist und etwas anderes ist als nur «selber denken». Bullinger hat die Pfarrer und über sie die Kirchgemeinden nicht angeleitet zum «selber denken», sondern zum Verstehen der biblischen Botschaft, zum christlichen Glauben und Leben. Wir finden hier – wie es eigentlich selbstverständlich sein sollte in reformatorischer Theologie – die Wahrheit, dass wir das Entscheidende weder in unseren Hirnwindungen tragen noch in unseren Herzen. Es ist uns von aussen gesagt und gegeben im Wort Gottes, der Bibel. Es soll unser Denken und Leben prägen. Wir sollen es uns aneignen, so dass wir ganz von ihm erfüllt sind.

Nun wenden manche ein: «Ja aber, die Reformierten kennzeichnet doch, dass sie die Bibel in die Hand jedes Gläubigen gelegt haben. Jeder Christ soll selber die Bibel auslegen, wie er es versteht und wie es ihn gut dünkt.» Ist das richtig? Gerne wird von reformierter Seite voll Stolz auf die reformierte synodale Tradition verwiesen. Sie wird als reformierte Freiheit gepriesen. In der reformierten Kirche würde demokratisch entschieden, nicht von oben herab festgelegt. Was wird entschieden? Man meint über die Wahrheit entscheiden zu können: Über das Was und Wie des Glaubens, über die Gebote, welche wir heute als gültig erachten wollen und welche nicht. Allerdings ist Mehrheit keine Garantie für Wahrheit. Die Mehrheit kann manipuliert und unerleuchtet sein. Oder einfach gefragt: Können wir über das abstimmen, was wir von Gott hören wollen?

Die reformierten Väter hätten dem widersprochen und gesagt: «Der Glaube kommt aus dem Hören des Wortes Gottes» (Rö. 10, 17). Wir empfangen die Weisheit Gottes von oben, von Gott (Jakobus 3, 15). Bullingers Motto über seinen Werken war stets das Wort Gottes über Jesus nach Mt. 17, 5: «Dies ist mein geliebter Sohn, durch den meine Seele versöhnt worden ist; auf ihn hört.» Auf Jesus hören, das ist das Entscheidende. Dazu ist uns die Bibel gegeben und dazu sind wir hineingestellt in die «eine heilige, allgemeine, apostolische Kirche». Wir erfinden nicht in jeder Generation den Glauben neu, so wie er uns gerade passend erscheint. Wir empfangen das Entscheidende von den Aposteln. Die Kirche ist die Hausgemeinschaft Gottes. Christen sind Mitbürger der Heiligen, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist (Eph. 2, 19-20).

Mit allen Reformatoren hat auch Bullinger Wert darauf gelegt, dass die reformatorische Lehre nichts Neues ist, also keine Erfindung des 16. Jahrhunderts. Nicht etwas Neues wollten sie sagen, sondern zurückgehen zum Anfang, zur Quelle, zum stets Aktuellen. Heute versucht man in der Kirche neuzeitlich, aktuell, gesellschaftsrelevant zu sein. Traditionell und konservativ ist verpönt.

Die Kirche der ersten Jahrhunderte fand im Neuen nicht per se einen Fortschritt oder gar Massstab. Im Gegenteil: Das Neue war eher verdächtig. Es musste geprüft werden an dem, was die Apostel überliefert hatten, an der ganzen Bibel. Was als neu in der Kirche auftauchte, entpuppte sich oft als Irrlehre: ‘Weg mit dem Alten Testament’ (Markion); ‘Jesus ist nicht wirklich selbst am Kreuz gestorben’(Kerdon); ‘Jesus ist nur das höchste und erste Geschöpf’ (Arius) und dergleichen Lehren, die in die Kirche hineindrangen, mussten geprüft werden am biblischen Wort. So entstanden in den Auseinandersetzungen mit neuen Lehren die kirchlichen Bekenntnisse. Diese Bekenntnisse, die als Zusammenfassung und Bekräftigung der apostolischen Verkündigung betrachtet wurden, wurden deshalb im Gottesdienst gesprochen zu Gottes Lob und zur Lehre für die Gemeinde. Diese Bekenntnisse waren auch die Regel, nach der die Bibel ausgelegt, verstanden und verkündigt wurde. Man nennt sie die «Regula Fidei», deutsch die «Regel des Glaubens». Die «regula fidei» ist nach diesem Verständnis nichts anderes als eine Zusammenfassung der apostolischen Verkündigung, die in ausführlicherer Form im Neuen Testament bezeugt ist. Und da das Neue Testament Auslegung des Alten Testaments ist, so wenden diejenigen, welche die Bibel nach der «regula fidei» auslegen, keine ihr fremde Regel an. Im Gegenteil: Sie legen die Bibel durch die Bibel aus.

Was hat das mit den Reformierten zu tun?

Heinrich Bullinger leitet die Herausgabe seiner «Dekaden»-Predigten ein mit dem Rückbezug auf die ersten vier allgemeinen Synoden oder Konzile. «Sie alle bezeugen, dass keine Kirche ein anderes Bekenntnis als das der Apostel… benutzte und alle Kirchen auf dem ganzen Erdkreis damit zufrieden waren.» Damit macht er deutlich, dass wir als Bibelleser und Verkündiger in einer Linie stehen mit denen, die uns vorausgegangen sind als Wolke der Zeugen (Hebr. 12, 1).

Bereits in dieser Einleitung schreibt Bullinger: «Da ihr aber, liebe Brüder, wisst, wem ihr Glauben geschenkt habt und dass die Lehre unseres Glaubens die christliche, apostolische, allgemeine, rechtgläubige und wahre, alte und ungezweifelte Glaubenslehre ist, so bleibt beharrlich, haltet an ihr fest und lehrt sie. Die Wahrheit wird immer siegen, sie kann zwar bedrängt, aber nicht unterdrückt werden.» (S. 35). Für den reformierten Bullinger jedenfalls war klar, nach welcher Glaubensregel die Bibel ausgelegt werden muss und dass es nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt ist, die Bibel so auszulegen, wie es ihm passt (S. 92).

Im 19. Jahrhundert wurde in den reformierten Landeskirchen die Verbindlichkeit des Apostolischen Glaubensbekenntnisses aufgehoben. Die liberalen Pfarrer hatten sich gegen das Apostolicum gewehrt, weil sie dessen Aussagen als «modernen Theologen» nicht mehr ernst nehmen könnten. Seither sind die evangelischen Landeskirchen bekenntnisfrei, was faktisch auf eine Bekenntnislosigkeit hinausläuft, die wiederum eine Beliebigkeit fördert. Es ist fortan den Pfarrern überlassen, was sie verkündigen wollen. Es steht den Vorsteherschaften und Gemeinden frei, welche Verkündigung sie bei sich haben wollen. Man hat in einem demokratischen Prozess darüber abgestimmt, was in Zukunft in der Kirche gehört werden will. Die berechtigte Frage lautet: Inwiefern gehören diese Kirchen noch zur «einen heiligen, allgemeinen, apostolischen Kirche»? Inwiefern sind sie noch Kirche im biblischen Sinn, wenn sie als Kirche kein Bekenntnis mehr haben wollen?

Gewiss ist es nicht das einzige Mittel gegen den Verlust der biblischen Bildung und Verkündigung, jetzt einfach das Apostolicum im Gottesdienst zu sprechen. Sie finden die beiden Bekenntnisse im Anhang dieses Artikels. Doch mit einer entsprechenden Einführung der Gemeinde z.B. in der Erwachsenenbildung oder in einer Predigtreihe könnte der Kirchgemeinde und der Gemeindeleitung vor Augen geführt werden, was reformierter Glaube ist. Mehr jedenfalls als «selber denken.» 

Literaturhinweis: Heinrich Bullinger, Schriften Band 1-7, TVZ 2006. Die Zitate sind aus Band 3.

Zum Autor

Pfr. Dr. Jürg H. Buchegger, Frauenfeld, ist pensionierter Pfarrer und Prorektor und Dozent an der STH Basel.

juerg.buchegger@gmail.com (ich freue mich über Rückmeldungen und Fragen)


Das apostolische Glaubensbekenntnis

Ich glaube an Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
den Schöpfer des Himmels und der Erde.

Und an Jesus Christus,
seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,
empfangen durch den Heiligen Geist,
geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus,
gekreuzigt, gestorben und begraben,
hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten,
aufgefahren in den Himmel;
er sitzt zur Rechten Gottes,
des allmächtigen Vaters;
von dort wird er kommen,
zu richten die Lebenden und die Toten.

Ich glaube an den Heiligen Geist,
die heilige katholische (christliche/allgemeine) Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden,
Auferstehung der Toten
und das ewige Leben.
Amen.

Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (ERG 264)

Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen,
der alles geschaffen hat, Himmel und Erde,
die sichtbare und die unsichtbare Welt.
Und an den einen Herrn Jesus Christus,
Gottes eingeborenen Sohn,
aus dem Vater geboren vor aller Zeit:
Gott von Gott, Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott,
gezeugt, nicht geschaffen,
eines Wesens mit dem Vater;
durch ihn ist alles geschaffen.
Für uns Menschen und zu unserm Heil
ist er vom Himmel gekommen,
hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist
von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.
Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus,
hat gelitten und ist begraben worden,
ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift
und aufgefahren in den Himmel.
Er sitzt zur Rechten des Vaters
und wird wiederkommen in Herrlichkeit,
zu richten die Lebenden und die Toten;
seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Wir glauben an den Heiligen Geist,
der Herr ist und lebendig macht,
der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht,
der mit dem Vater und dem Sohn angebetet
und verherrlicht wird,
der gesprochen hat durch die Propheten,
und die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche.
Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden.
Wir erwarten die Auferstehung der Toten
und das Leben der kommenden Welt.
Amen