«Sehet euer Gott!»

Biblische Besinnung zu Jesaja 40-48

Serie: Wer ist Gott?

Was wir über Gott wissen können und sollen (Teil 2)

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«Sehet, euer Gott!» (40,9) – so ruft der Prophet Jesaja dem Volk Gottes zu. Die Kapitel 40–48 stellen Gott dar im Kontext von Abbildern, die eben auch im Volk Gottes gepflegt werden. Was ist die geschichtliche Situation, in welcher diese Worte an Israel ergehen? Jesaja blickt auf eine Periode, in der das Volk aus dem Land Kanaan vertrieben sein wird. Sie werden alles verlieren, ihr Eigentum, ihre Freiheit und ihr Zentrum: Jerusalem und den Tempel. Wahrhaft eine entmutigende Aussicht, von der auch Jeremia noch einmal sprechen wird. In diese Situation hinein spricht Gott zu seinem verzagten Volk bereits von Trost:

«Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir; sei nicht ängstlich, denn ich bin dein Gott; ich stärke dich, ich helfe dir auch, ja, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit! … So fürchte dich nicht, du Würmlein Jakob, du Häuflein Israel; denn ich helfe dir, spricht der Herr, und dein Erlöser ist der Heilige Israels.» (Jes 41,10; 41,14; weiter 43,1.5; 44,2).

Gott beschreibt auch die erschütternde Lage seines Volkes: «Doch es ist ein ausgeraubtes und ausgeplündertes Volk, gefangen in Höhlen sind sie alle und in Kerkern versteckt, zur Beute geworden, und da ist keiner, der rettet, Plünderung und da ist keiner, der sagt: Gib zurück!» (42,23)

Es hat seinen Grund, weshalb Israel in diese Lage geraten ist: Sein Götzendienst. Darum spricht Gott: «Zurückgewichen, tief in Schande sind, die auf Standbilder vertrauen, die zu Gussbildern sagen: Ihr seid unsere Götter.» (42,17) Darum fordert Gott auf, sorgfältig auf ihn zu hören:

«Wisst ihr es nicht, habt ihr es nicht? - Mit wem wollt ihr Gott vergleichen und was als Ebenbild ihm gegenüberstellen? – Hört mir zu und schweigt! – Die ihr taub seid, hört und ihr Blinden, schaut her, damit ihr seht! – Hört auf mich, Haus Jakob, und ihr, der ganze Rest des Hauses Israel, die ihr mir schon im Leib euer Mutter aufgeladen worden seid.» (40,21; 41,1; 42,18; 46,3)

Gott spricht und stellt sich also vor. Darauf soll sein Volk genau hören und sehen. Gott stellt sich in diesen Kapiteln des Jesajabuches vor als der erhabene und einzigartig nahe Gott – wie er das in der ganzen Bibel tut. Hören wir sorgfältig hin, so erkennen wir: Seine Macht, sein Erhabensein (Transzendenz) ist die Voraussetzung seiner fürsorgerlichen Nähe:

«Sieh, Gott der HERR, er kommt als ein Starker, und sein Arm übt die Herrschaft aus für ihn. Sieh, sein Lohn ist bei ihm, und seine Belohnung zieht vor ihm her. Wie ein Hirt weidet er seine Herde, die Lämmer sammelt er auf seinen Arm, und er trägt sie an seiner Brust, die Muttertiere leitet er.» (40,10-11)

Der allmächtige Gott, der starke Gott ist auch der fürsorgliche Hirt für sein Volk. Es gibt keinen Menschen auf einer Stufe mit ihm. Er ist der Schöpfer des Universums:

«Wer hat mit der hohlen Hand das Wasser gemessen und mit der Spanne seiner Hand den Himmel abgemessen? Und wer erfasst mit dem Drittelmass den Staub der Erde und wiegt mit der Waage die Berge und mit Waagschalen die Hügel? Wer hätte den Geist des HERRN geprüft, und welcher Mensch wäre sein Ratgeber, würde ihn unterweisen? Mit wem könnte er sich beraten, der ihm Einsicht verschafft und ihn belehrt hätte über den Pfad des Rechts und ihn Erkenntnis gelehrt hätte und ihm nun den Weg der Einsicht wiese? Sieh, wie ein Tropfen in einem Eimer sind die Nationen, und wie Staub auf Waagschalen werden sie geachtet. Sieh, Inseln hebt er empor, als wären sie ohne Gewicht.» (40,12-15)

Seht, euer Gott! Gott ist Gott. Die Völker, die Israel so mächtig erscheinen, sind nur wie ein Tropfen im Eimer, weniger als Nichts (40,17-18). Gott herrscht über alle Völker, führt sie alle nach seinem Plan. Er thront über allem. Im Vergleich zu ihm sind die Bewohner der Erde wie Heuschrecken.

Gott braucht keine Berater: «Wer bestimmt den Geist des HERRN, und welcher Ratgeber unterweist ihn? Wen fragt er um Rat, der ihm Einsicht gebe und lehre ihn den Weg des Rechts und lehre ihn Erkenntnis und weise ihm den Weg des Verstandes?» (40,13-14) Er ist allwissend aus sich selbst und was er will, das vollbringt er.

Gott ist heilig und er lässt sich nicht mit den selbstgemachten Götzen verbinden in einem gemeinsamen Kult. Die Götzen, die Israel sich machen lässt, sind Holz und zerbrechlicher Ton. Sie vermögen nicht einmal selbst zu stehen (40,19-20). Sie entfalten nur ihre Macht über die, die sich anbeten. Gott aber ist in sich selbst, heilig, allmächtig, allwissend. Er ist die Quelle des Lebens, der tiefe Brunnen, aus dem Israel seine Existenz schöpfen darf.

Was wir in Jesaja 40–48 von Gott sehen, das finden wir in der ganzen Heiligen Schrift. Gottes Güte und seine Heiligkeit gehören zusammen. Sie können nicht voneinander geschieden werden. Nur zusammen sind sie stimmig. Die Güte von der Heiligkeit getrennt, wird ein billiges und sentimentales Bild ergeben. Umgekehrt: Wenn man Heiligkeit und Gerechtigkeit und seine Güte, seine Liebe, sein Erbarmen und seine Bundestreue trennt, wird Gott zum Wesen, das weit von uns weg existiert und den wir irgendwie «erweichen» müssen, damit er uns wenigstens sieht und sich vielleicht über uns erbarmt.

Hanniel Strebel gibt diesen hilfreichen Überblick zu den Wortfeldern «Güte» und «Heiligkeit» in der Bibel, den ich hier mit seiner Erlaubnis wiedergebe:[1]

Güte Wirkt sich zum Segen anderer aus.

Wird zur Quelle allen Segens

Wird ohne Zurückhaltung den Gerechten zuteil
Gen 50,20; Num 10,29;Deut 30,5; Jak 1,17;Ps 34,8–10;Ps 84,11; 85,12; 103,5;Mt 7,11
LiebeBeschreibt die sich selbst hingebende Zuwendung für seine sein Bild tragenden Geschöpfe zu deren Gutem.

Umschliesst seine erwählende, erlösende sowie heiligende und belohnende Zuwendung
Joh 3,16; Eph 5,25; Offb1,5; Jes 62,3; Hebr 11,6
Gnade Trägt den Charakter von Gunst.

Wird Menschen zuteil.

Besteht unabhängig von der Gerechtigkeit des Volkes.

Wird durch Jesus Christus zuteil.

Wird in der Gemeinde wirksam.

Ist für gute Werke und zur Verkündigung notwendig.
2Mose 34,6;5Mose 9,4–6;Joh 1,14–17;Apg 11,23;Eph 2,10; Röm 12,3
Liebe des BundesWird 245-mal wiederholt.

Wird mit dem Refrain «seine Güte währt ewig» besungen.

Fordert die Loyalität unserer ganzen Person als Antwort.

Ist oft an Gehorsam geknüpft.

Steht im Gegensatz zur Bosheit des Menschen.
1Chr 16,34 etc.;5Mose 6,5;2Sam 22,26;Ps 36
ErbarmenÄussert sich als Hilfe in Notz. B. Neh 9,17

Tabelle 1: Wortfeld «Güte»


GerechtigkeitBeschreibt Gottes Handeln gemäß seinem vollkommenen inneren Standard von richtig und falsch.

Ist kein über ihm stehendes Gesetz, sondern gründet auf seiner Natur.

Lässt Bosheit den eigenen Kopf zurückkommen.

Lässt Gott gerechtes Gericht üben.

Vollbringt gerechte Taten.

Wird in der Vergebung zuteil.

Gilt auch gegenüber Armen und Benachteiligten.
5Mose 32,4;Ps 145,17;2Mose 20;Obd 15; Spr 26,27;Ps 9,8;1Sam 12,7; Jes46,13;Ps 34,15;Ps 72,1–4 etc.
EifersuchtBeschreibt Gottes leidenschaftlichen Eifer für die Exklusivität einer Ehe.

Wird im Zusammenhang mit der Warnung vor Götzendienst genannt.

Umschließt Gottes Eifer für seinen Namen.
Hld 8,6;2Mose 20,4–6;Hes 39,25; Jes 42,8
HassGott hasst das Böse und die Bösen.

Wir waren Kinder des Zorns.

Hassen = zurückstellen

Gott hasste Esau. Das heißt, er entzog seine Bundesliebe und stellte sie zurück.
3Mose 20,23;5Mose 25,16; Ps5,5; 11,5;Eph 2,3;Mal 1,3; Röm 9,13
ZornIst die Übersetzung von verschiedenen
Begriffen.

Erscheint als Antwort auf Sünde.

Wird oft ohne Gott als deren Quelle erwähnt.

Beinhaltet persönliches Handeln Gottes.

Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

Gott ist langsam zum Zorn.

Ohne Gottes Zorn ist seine Liebe nicht länger gerecht.
4Mose 1,53 etc.;Röm 1,18;Hebr 10,31;Ps 103,8; 2Petr 3,9
Heiligkeit Kann einen örtlichen Bereich beinhalten.

Wird mit dem Heiligtum, der heiligen Stadt (Jerusalem), dem Land sowie der gesamten Schöpfung in Verbindung gebracht.

Bezeichnet Gottes Vermögen und Recht, unser Staunen und unsere Bewunderung hervorzurufen.

Wird zu unserer Errettung, indem er uns in seine Nähe holt.
2Mose 3,5f, 19,23;2Mose 26,33; Sach 2,12;Jes 6,3; 2Mose 15,11; 1Sam2,2; Hebr 12,28Hos 11,9

Tabelle 2: Wortfeld «Heiligkeit»

Gewiss empfinden wir eine Spannung zwischen diesen Wortfeldern. Die Versuchung liegt nahe, das eine für das andere preiszugeben. Was uns «angenehmer» anspricht, das bevorzugen wir und sagen: «So ist Gott!» Das andere finden wir «verstörend» und sagen: «Heutzutage kann man das nicht mehr glauben. Wir müssen zu einem befreienden Glauben finden.»

Hier brauchen wir einen Blick in die Geschichte Israels. Bereits in 2. Mose 34,5-7 ist beides zusammen, wenn Gott zu Mose spricht:

«Da kam der HERR hernieder in einer Wolke und trat daselbst zu ihm. Und er rief aus den Namen des HERRN. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.» (2. Mose 34,5-7)

Darin finden wir auch einen Anklang an das 2. Gebot (2. Mose 20,3-6). Gott schloss mit Israel einen Bund nach seiner Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Dieser Bund beinhaltet auf Seiten Israels exklusive Treue. Mose erinnerte das Volk Israel am Ende noch einmal an die zwei Bestimmungen, die für die ganze Menschheit und im Speziellen für Israel gelten: Segen und Fluch (5. Mose 28–29). Mose fasst zusammen:

«Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen, dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und seiner Stimme gehorchst und ihm anhangest. Denn das bedeutet für dich, dass du lebst und alt wirst und wohnen bleibst in dem Lande, das der HERR deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, ihnen zu geben.» (5. Mose 30,19-20)

Die Ankündigung des Fluches ist furchterregend. Aber das Gewicht liegt auf dem Segen. Die Segensverheissung ergeht bedingungslos, ja geradezu mit einem bittenden und werbenden Ton. Dennoch hat auch der Bruch des Bundes seine Konsequenzen. Wer sich von der Quelle des Lebens, von Gott entfernt, liefert sich dem Tod aus. Das ist eine Spannung. Aufgelöst wird sie nicht. Sie bleibt bestehen auch im Neuen Testament: Jesus stirbt für die Gottlosen. Erwird zum Fluch, damit wir durch den Glauben an Jesus in den Segen Gottes hineinfinden, in den neuen Bund (Galater 3,13-14). Wir werden gebeten, diese Versöhnung mit Gott anzunehmen:

So treten wir nun als Gesandte Christi auf, denn durch uns lässt Gott seine Einladung ergehen. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Den, der von keiner Sünde wusste, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes würden. (2. Korinther 5,20-21)

Wer diese Einladung mit Füssen tritt, bleibt unter dem gerechten Gericht Gottes. Alles andere ist billige Gnade, ausgeteilt von einem Gott nach unserem Bild.

Zum Autor

Pfr. Dr. Jürg H. Buchegger, Frauenfeld, ist pensionierter Pfarrer und ehemaliger Prorektor und Dozent an der STH Basel. 


[1] Hanniel Strebel, Wer Gott verliert, verliert sich selbst. MBS Texte 185, 2016, S. 6-9. Als PDF erhältlich: https://www.bucer.de/fileadmin/_migrated/tx_org/mbstexte185_theo_deu_e.pdf (abgerufen 17.04.2023).