«Wer ist hier eigentlich der Chef?»

Meine Kirche, mein Glaube 2 (Serie)

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Hintergrund des Artikels

Was ist das Fundament, auf dem wir als Kirche stehen? Und was bedeutet das für unser Miteinander und unser alltägliches Leben? Dem gehen wir in einer neunteiligen Artikelserie auf die Spur. Die Artikel basieren auf den Predigten aus der aktuellen Predigtreihe «Mini Chile, min Glaube» («Meine Kirche, mein Glaube») der Evangelischen Kirchgemeinde Tägerwilen-Gottlieben, wo ein Vorstandsmitglied des Netzwerks Bibel und Bekenntnis Schweiz, Philipp Widler, als Pfarrer tätig ist.

Im Rahmen eines Strategieprozesses machte sich die dortige Kirchenvorsteherschaft auch Gedanken über ihre Glaubensgrundlagen. Anfangs 2023 verabschiedete sie ein entsprechendes Dokument, in dem sie die Glaubensgrundlagen der Kirchgemeinde festhält. Das Dokument ist auf der Homepage der Kirchgemeinde unter folgendem Link abrufbar: https://www.evang-taegerwilen.ch/dok/362

Der folgende Artikel basiert auf der zweiten Predigt der Reihe von lic. theol. Simone Widler im Gottesdienst vom 28. Januar 2024 in der Evangelischen Kirchgemeinde Tägerwilen-Gottlieben.Vom Schweizerdeutschen ins Hochdeutsche übersetzt von Pfr. Philipp Widler.


Einleitung

Ein Blick in die Medien ist manchmal wie ein Blick in den Spiegel. Nicht immer angenehm. Manchmal überraschend. Manchmal himmeltraurig. Manchmal offenbart sich uns etwas, das wir sonst gerne übersehen.

So empfinde ich das auch für uns als Kirche. Nicht unbedingt für uns vor Ort, sondern im Blick auf unsere Landeskirche schweizweit oder europaweit. Schauen wir da in Zeitungen, Bücher, Newsletter, dann kommt uns ein Bild von Kirche entgehen. Wir sehen, wie wir uns selber wahrnehmen und wie uns die Leute von aussen sehen. Um was drehen wir uns eigentlich? Man nimmt viel wahr, dass wir uns als Kirche Sorgen machen um den Mitgliederschwund, um Austrittszahlen, um Bedeutungslosigkeit, um den Rückgang von Taufen und Hochzeiten. All das ist von Hoffnungslosigkeit und Ratlosigkeit durchdrungen.

Deswegen versucht sich die deutschsprachige Kirche wieder relevanter zu machen. Schliesslich benötigt sie Bedeutung und will gesellschaftlich anerkannt sein. So wie in den guten alten Zeiten, als die Kirche noch im Dorf war und das gesellschaftliche Leben mitbestimmte. Also schmückt sie sich in Regenbogenfarben und trägt einen grünen Gockel auf dem Kirchenturm. Die Kirche als selbsternannte Streiterin für Minderheiten und als Missionarin des Umweltschutzes. Sie pflegt nach aussen eine grüne Spiritualität. Alles en vogue.

In manchen südlichen Ländern verkümmert die Kirche zum Instrumentarium für soziale und politische Umwälzungen. Sie ist fokussiert auf die Befreiungstheologie.

Und in Nordamerika erhält man in mancher Kirche mit dem Tritt über die Schwelle in den Gottesdienst auch gleich noch eine Garantie auf Reichtum und ein besseres Leben. Den Fernsehpredigern und Wohlstandsevangelisten widmet man sogar ganze, bittere Netflixserien (siehe «Greenleaf») mit Amtsmissbrauch, Ausnutzung, Geldverschwendung, Veruntreuung, sexuellem Missbrauch usw.

Man könnte meinen, das Ziel der Kirche ist der Selbsterhalt, Umweltschutz, Befreiung und die Garantie auf Reichtum…

1. Gedanke: Was ist Kirche?

Ich möchte einen Schritt zurückgehen. Was genau ist eigentlich überhaupt Kirche? Ist sie das Gebäude, in dem wir drinsitzen und Gottesdienst feiern? Ist damit alles gesagt, was Kirche ist?

Ich gehe noch weiter zurück. Sogar ganz zum Anfang. Zur Erschaffung von Himmel und Erde und zum Paradies. Dort sagt Gott zu sich (1. Mose 2,18): «Es ist nicht gut für den Menschen allein zu sein. Ich will ihm ein Wesen schaffen, das zu ihm passt.»

So wie Gott drei in eins ist und Gemeinschaft mit sich selber lebt (ja, das ist schwer vorstellbar), so wollte Gott auch dem Menschen die Möglichkeit geben, etwas Ähnliches zu erleben. Er schuf den Menschen für die Gemeinschaft. Das liegt tief in seinem Wesen. Darum setzte Gott am Anfang den Menschen in Beziehung zu einem Gegenüber und hat mit den ersten beiden Menschen die Familie als Gemeinschaftsform eingesetzt.

Die natürliche Familie war gedacht als Ort der Geborgenheit und des Wachstums, körperlich, geistlich, seelisch. Die Realität sieht leider aber oft anders aus. Durch den Sündenfall wurde schon die erste Familie der Bibel durch Eifersucht zerstört. Nicht selten sind unsere Familien zerrüttet, getrieben vom Egoismus und nicht unbedingt ein guter Nährboden für Wachstum. Durch die Gnade Gottes können wir auch wieder Heilung für unsere Familien erleben. Aber das ist hier nicht das Thema.

Als Jesus seine 12 Jünger um sich sammelte, sie herausrief aus der Menge, da begann er eine neue Form der Gemeinschaft. Eine, die ihn im Zentrum hatte. Um ihn, um die Zwölf, sammelten sich immer mehr Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Jesus sagte einmal zu seinen Zuhörern (Matthäus 12,50): «Wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter!»

Wer zu Gott gehört, ihn ins Herz lässt und mit ihm unterwegs ist, der gehört zur neuen geistlichen Familie, die mit Jesus begonnen hat. Gruppierungen dieser geistlichen Familie gibt es überall in der Welt. Und sie sind nicht nur in einer Form von Kirche zu finden.

Kirche ist die Gemeinschaft jener Menschen, die Jesus zu sich ruft. Das griechische Wort für Kirche heisst «Ekklesia» (ἐκκλησία). Es leitet sich ab vom Wort «ekkletos» (ἔκκλητος) und meint: herausgerufen, ausgewählt, aufgerufen, berufen. Wir als Kirche sind die Gemeinschaft der Herausgerufenen. Wir sind von Jesus herausgerufen worden aus der Menge der Menschen, aus unserem Schicksal, aus unserem toten geistlichen Zustand, aus der Sünde, aus dem Reich der Dunkelheit und sind für Gott auf die Seite gestellt worden. Nicht weil er uns aufs Abstellgleis stellt. Für Gott auf die Seite gestellt meint, dass er uns heilig macht und uns für sich alleine bestimmt hat. Er reinigt uns für seinen Bestimmungszweck.

Wir sind Kirche, weil Jesus uns miteinander in die Nachfolge ruft. Das Ziel von Kirche ist, dass sie eine geistliche Familie ist, ein Ort der Geborgenheit und des Wachstums, eine Lerngemeinschaft. Wir sind herausgerufen, um mit Jesus unterwegs zu sein und andere Menschen in die Gemeinschaft mit ihm hineinzurufen. Das Ziel von Kirche ist, das zu tun, was Jesus uns aufträgt.

2. Gedanke: Wer ist Chef der Kirche?

Wer ist jetzt da aber eigentlich der Chef? Wer ist der Chef unserer Kirche? Der Pfarrer? Der Diakon? Die Kirchenvorsteherschaft? Die Präsidentin? Oder sogar der Kirchenrat der Thurgauer Landeskirche oder die Kirchenratspräsidentin? Wir führen an dieser Stellung keine Abstimmung durch, um die Meinung der Hörerschaft zu erfragen. Ich stelle mir vor, dass das noch zu einigen Diskussionen führen könnte. Denn unsere menschlichen Strukturen können sehr verwirrlich sein und bilden nicht unbedingt die geistlichen Strukturen ab.

Im Text unserer Glaubensgrundlagen steht unter «Kirchliches Wirken»: «Unsere Grundlage und unser Zentrum ist Jesus Christus, der uns zum Kirche-Sein berufen hat und uns als Kirche leitet.»

Wahrscheinlich hast du es schon erahnt, dass ich auf das hinauswill. Jesus ist der Chef! Auch wenn menschliche Strukturen undurchsichtig oder verwirrlich sein können, so ist es doch eindeutig klar, wer der Boss ist. Wir alle haben einen Chef: Jesus!

Die Bibel gebraucht drei Bilder, um die Kirche zu beschreiben – so viele sind mir zumindest spontan eingefallen. Es ist das Bild des Hauses oder Tempels, es ist das Bild des Leibes – oder heute würde man vielleicht besser das Wort Körper sagen – und schliesslich noch das Bild der geistlichen Familie, das ich schon vorher erwähnte.

In 1. Korinther 3,11 steht: «Denn niemand kann ein anderes Fundament legen als das, das schon gelegt ist – Jesus Christus.»

Und in Epheser 2,19-22 wird Jesus als Eckstein des Baus beschrieben: «Deshalb seid ihr nicht länger Fremde und ohne Bürgerrecht, sondern ihr gehört zu den Gläubigen, zu Gottes Familie. Wir sind sein Haus, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist mit Christus Jesus selbst als Eckstein. Dieser Eckstein fügt den ganzen Bau zu einem heiligen Tempel für den Herrn zusammen. Durch Christus, den Eckstein, werdet auch ihr eingefügt und zu einer Wohnung, in der Gott durch seinen Geist lebt.»

Jesus ist das Fundament unserer Kirche, auf dem wir aufbauen. Ohne Fundament steht das, was darauf gebaut wird, uneben und steht in der Gefahr, das ganze Haus in Schieflage und zum Einsturz zu bringen. Das ist das, was wir leider europaweit sehen: Die Kirche hat ihr Fundament verloren – weil, ja «man kann doch heute nicht mehr sagen, dass Jesus der einzige Weg ist, das ist ausschliessend gegenüber Menschen mit anderen Glaubensüberzeugungen. Abgesehen davon ist alles ja nur eine subjektive Empfindung. Schön, dass es für dich die Wahrheit ist, für mich nicht…» Mein Mann hat im ersten Artikel dieser Serie genau über diese Thematik geschrieben: Gibt es einen objektiven Glauben und spielt das überhaupt eine Rolle?

Unsere westliche Christenheit hat oft kein Fundament mehr und dementsprechend fällt die Kirche in sich zusammen. Wenn wir unseren Blick auf andere Regionen der Welt richten, dann können wir aber entdecken, dass nicht überall die Kirche zusammenstürzt. Es gibt Regionen, da wächst die Kirche und jeden Tag finden neue Menschen dazu. Wo Jesus das Fundament ist und bleibt, da kann Kirche sogar gegen die wildesten Widerstände entstehen und wachsen.

Das letzte Bild für Kirche, das ich hier ausführen möchte, ist jenes vom Leib oder Körper. In Epheser 4,15-16 lesen wir: «Stattdessen lasst uns in Liebe an der Wahrheit festhalten und in jeder Hinsicht Christus ähnlicher werden, der das Haupt seines Leibes – der Gemeinde – ist. Durch ihn wird der ganze Leib zu einer Einheit. Und jeder Teil erfüllt seine besondere Aufgabe und trägt zum Wachstum der anderen bei, sodass der ganze Leib gesund ist und wächst und von Liebe erfüllt ist.»

Wir als Kirche sind wie ein Körper. Jedes Körperteil hat seinen eigenen Platz im Körper. Wir werden alle zusammengehalten und gehören zusammen. Und Jesus ist das Haupt oder der Kopf des Körpers. Er steuert und leitet den Körper, so wie er ihn gebrauchen will.

Jesus leitet seine Kirche. Er ist der Chef. Sie gehört ihm und nicht mir. Manchmal habe ich ja das Gefühl, meine Kirche müsse genau so und so sein. Ich sehe Mängel, ich hätte es gerne anders. «Eigentlich spricht es mich ja mehr an, wenn...» Ich glaube, ich bin nicht die Einzige, die solche Gedanken hat. Jeder kann die Pünktchen an dieser Stelle mit seinem eigenen Inhalt füllen.

Wünsche und Träume für unsere Kirche sind gut. Mit solchen entwickeln wir Visionen und Ziele, die uns vorwärtsbringen. Aber schlussendlich ist Jesus der Chef. Und ich muss mich selber hinterfragen, ob das, was ich gerne hätte, wirklich dem grösseren Ganzen der Kirche dient. Dient es dem Aufbau der Kirche, wenn sich mein Musikstil durchsetzt? Wachsen wir als Kirche, wenn meine favorisierte Gottesdienstzeit die einzige ist? Soll es einfach für mich bequem sein? Soll es immer so bleiben, wie es schon immer war? Oder muss alles einfach immer anders sein, Hauptsache nicht liturgisch?

Es gibt keine simplen Antworten auf all diese Fragen. Es ist ein andauerndes Ringen um die bestmögliche Antwort. Die Frage ist aber vor allem: Kann ich mich Jesus unterordnen, wenn es um meine Kirche geht? Kann ich ihm vertrauen, dass er es gut macht? Kann ich mich selber zurücknehmen, wenn es um das grössere Ganze geht?

Jesus ist schlussendlich verantwortlich, was mit uns als Kirche geschieht. Wir alle, die uns involvieren, tun das im Auftrag und in der Verantwortung vor ihm. Aber er trägt und hält alles zusammen.

3. Gedanke: Sind wir alle gleich?

Wenn wir auf uns als Kirche schauen, dann realisieren wir schnell, dass wir nicht alle gleich ticken. Wir haben nicht alle die gleichen Bedürfnisse, wir leben nicht alle den Glauben gleich aus. Das führt fast automatisch zu Konflikten. Rein so, wie wir als Menschen ticken, haben wir als erstes immer das Gefühl, dass so, wie ich das sehe, und so, wie ich das tue, es genau richtig ist. Oder?!?! Es benötigt Kraft und Mut, einen Schritt zurückzumachen und sich selber zu hinterfragen, ob das so stimmt.

Ich empfehle an dieser Stelle die Lektüre des Korintherbriefes insbesondere Kapitel 12,12-31a. Dieser Abschnitt zeigt, dass es offenbar in der Kirche in Korinth Streit gab. Vieles ist aus Hochmut gewachsen und weil der eine es besser wusste als der andere. Und dann wurde alles auch noch geistlich aufgeladen und die einen waren sich sicher, dass sie geistlich viel weiter sind als die anderen, und darum auch wichtiger sind. Genau da geht Paulus mit seinem Brief dazwischen. Er sagt, dass die Kirche von Jesus wie ein Körper ist, der sich aus vielen Teilen zusammensetzt. Sind alle gleich? Nein! Haben alle die gleiche Aufgabe? Nein! Haben alle die gleichen Begabungen? Nein! Ist darum der eine wichtiger als der andere? Nein! Müssen alle gleich sein? Nein!

Im Text unserer Glaubensgrundlagen steht unter «Kirchliches Wirken»: «Unterschiedliche Ausdrucksformen des Glaubens verstehen wir als Zeichen für Gottes Vielfalt.» Die Kirche benötigt die Vielfalt. Die Kirche von Jesus braucht, dass du eine andere Aufgabe hast als ich! Unsere Kirche braucht, dass Menschen mit unterschiedlichsten Begabungen ihren Platz im Ganzen finden und ihre Begabungen, ihr Wesen, sich selber hineingeben. Und miteinander und mit Jesus als unserem Haupt können wir wachsen und gedeihen. Und wir bilden miteinander die Vielfalt Gottes ab.

Schluss

Ich erzählte am Anfang überspitzt, was man alles meinen könnte, sei das Ziel von Kirche. Der Selbsterhalt, der Umweltschutz, Befreiung, Aussicht auf Reichtum und Wohlstand, besseres Leben. Nichts auf dieser Liste ist einfach falsch. Aber es ist nicht das Ziel. Es sind vielleicht berechtigte Anliegen, die man theologisch diskutieren und zu Teilen auch theologisch begründen kann. Aber sie stehen nicht alleine zuvorderst.

Zuvorderst steht, dass wir als Kirche Jesus im Zentrum haben. Wir sind herausgerufen und in die Nachfolge von Jesus gerufen und unser Ziel ist, mit der Hilfe Jesu den Willen des Vaters zu tun. Dieses Ziel setzen wir um, indem wir miteinander Gemeinschaft haben, miteinander lernen, unsere Begabungen miteinander zu teilen, und andere Menschen mit in unsere Gemeinschaft rufen. 

Zur Autorin

Simone Widler führt gemeinsam mit ihrem Mann im Pfarramt der Evangelischen Kirchgemeinde Tägerwilen-Gottlieben. Sie wohnen in Tägerwilen und haben drei Kinder.


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