Am Ende einer Epoche?

Offener Brief an Pfarrkolleginnen und -kollegen

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Liebe Amtskollegen, liebe Freunde![1]

Viele von Euch haben im Herbst 2019 bei der Erklärung betr. «Ehe für alle» mitunterschrieben. Manchen von Euch bin ich in den letzten Jahrzehnten an diesem oder jenem Ort begegnet und weiss darum, dass Ihr in ähnlicher Art wie ich um die Zukunft unserer Kirche ringt. Uns alle eint das Sehnen nach einer Erneuerung der Kirche, nach einer neuen Vollmacht in Verkündigung, Seelsorge und Unterricht; nach Gottesdiensten im Kraftfeld des lebendigen Gottes; nach Gemeindeleitungen, die das Reich Gottes im Sinne des Neuen Testaments bauen wollen.

Seit meiner Kindheit und Jugend in den 70er- und frühen 80er-Jahren ist die Erneuerung der Kirche «das» Thema unter Evangelischen. Man suchte diese Erneuerung in einer zeitgemässen Liturgie (neue Lieder, neue Gottesdienstformen, verständlichere Sprache, nicht selten auch mit Ausleihen aus dem Entertainment usw.). Man wollte als Kirche den Menschen auf Augenhöhe begegnen (der Pfarrer als der fürsorglichste aller Mitmenschen, jegliche Art von Nieder­schwelligkeit bei kirchlichen Veranstaltungen, Fokussierung auf das «Therapeutische» in Seelsorge und Beratung, Vermeidung von sogenannt «steilen» theologischen Aussagen usw.). Man versuchte, die Kirche auf der Höhe der Zeit zu positionieren (Stichwörter wie «anschlussfähig», «relevant», «besucherfreundlich», «zielgruppen-orientiert» wurden zu handlungsleitenden Prinzipien – müssig zu sagen, dass diese Prinzipien sich in Dogmen verwandeln, die die Hermeneutik dirigieren).

Meines Erachtens sind wir nun am Ende dieser gut 50-jährigen Epoche angelangt. Die Mittel und Wege sind ausgeschöpft, um in dieser Art die Kirche zu «erneuern». Unzählige Initiativen wurden ergriffen: Mehr Praxisnähe, mehr Erlebnisse, mehr persönliche Betroffenheit, mehr authentische Erfahrungen, mehr Anteilnahme, mehr Emotionen zulassen, mehr Konkretion, mehr Professionalität, mehr Milieu-Affinität, usw.). Manche gute Einsicht wurde daraus gewonnen. Manches davon verbesserte den Umgang untereinander. Gottesdienste wurden origineller gestaltet, Kirchenräume praktischer eingerichtet.

Was aber geschah derweil mit der Substanz der Verkündigung des Wortes Gottes? Was geschah mit dem Inhalt unseres Zeugnisses für Jesus Christus? Glaubten wir, mit dem zeit­gemässeren Auftritt als Institution geschehe auch eine geistliche Erneuerung? Meinten wir wirklich, mit einer besseren Performanz liesse sich eine säkulare Generation wieder für Gott gewinnen?

Eine massive Grundlagenkrise in der Theologie lähmt die glaubensweckende Verkündigung. Diese Krise besteht seit gut 150 Jahren – so lange schon, dass auch viele Theologen sie verinnerlichten; dass die Erwartungen an das geistliche Leben bereits ein «Downgrading» durchliefen und die geistliche Armut nur noch schwer als solche erkannt wird.

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erschütterte der Apostolikum-Streit weite Teile unserer Landeskirchen. In der Folge verschwand das apostolische Glaubensbekenntnis aus den Gottesdiensten. Damit gab man nicht nur ein liturgisches Element, sondern die heils­geschichtliche Perspektive der Bibel preis. Das Apostolikum (samt den anderen altkirchlichen Bekenntnissen) ist seit der Reformationszeit ein wichtiger hermeneutischer Schlüssel für Predigt und Lehre in den evangelischen Kirchen. Mit dieser Preisgabe «erkaufte» man sich die Anerkennung der Landeskirchen. Seither vermied man es im Protestantismus, diesen Substanzverlust zu benennen, geschweige denn, darüber Busse zu tun.

Die Kirchenleitungen in unserem Land spüren diesen Mangel an theologischer Substanz. In ihrer Not versuchen sie, der Kirche eine inoffizielle «Ersatz-Dogmatik» zu geben. Meiner Beobachtung nach bietet sich momentan dafür die Trias «Klima, Gender und Antidiskriminierung» an (weitere postmoderne Denkrichtungen lassen sich in diesen drei Bereichen subsumieren).

Seit bald 30 Jahren bin ich an vorderster Front in der Kirchenpolitik engagiert (stets in der Zürcher Kirchensynode und seit bald 10 Jahren auch in der EKS-Synode). Mir fiel auf, dass die Kirchenleitungen meistens keine Aktivisten in den obgenannten Themen sind. Sie hegen nur die vage Hoffnung, die Kirche möge dadurch noch etwas punkten. Oder sie fühlen sich getrieben vom aggressiv fordernden Säkularismus. Jedenfalls beobachtet man bei ihnen keine freudigen Gesichter. Auch gibt es weder Lieder dafür, noch das erhebende Empfinden eines kirchlichen Neuaufbruchs.

Wer sich einer biblisch fundierten Verkündigung verpflichtet weiss, wird immer mehr eingeengt. Bislang konnte man sich noch den Feldern der Diakonie, der Seelsorge, der Lebensberatung oder der Förderung der Praxis Pietatis innerhalb der Kirche zuwenden, um den kontroversen Zeitgeistthemen zu entgehen. Nun aber dringt diese «postmoderne Dogmatik» auch in diese letzten Biotope ein.

Einige suchten einen Ausweg im sogenannten «Post-Evangelikalismus»: Er versprach einen Friedensschluss mit den gegenwärtigen Geistesströmungen indem Evangelium und Kultur kombiniert würden. Man erklärt dabei die Themen der obgenannten «Trias» flugs zu Nebenthemen des Glaubens. Einzig die «Mitte des Glaubens» müsse man bewahren, indem «Christus» stets im Zentrum bleibe. Was von der «Mitte des Glaubens» nach dieser post­modernen Rosskur noch übrigbleibt und welcher «Christus» damit noch kompatibel ist, bleibt im Nebulösen. Andere bleiben misstrauisch gegenüber dieser aalglatten Scheinlösung des «Post-Evangelikalismus». Sie möchten die sperrige Botschaft der Heiligen Schrift nicht einfach entschärfen, um damit dem Zorn der postmodernen Götter zu entgehen. Doch wie kann der Verkündiger standhaft bleiben, wenn er ganz allein dieser Flut des alles vereinnahmenden Mainstreams gegenübersteht? Der alte Ausdruck «consolatio fratrum» (das tröstende Wort unter Brüdern/Geschwistern) muss von uns allen neu entdeckt werden.

Gerne mache ich Euch darum aufmerksam auf das Netzwerk «Bibel und Bekenntnis» (www.bibelundbekenntnis.ch). Unsere Ziele umschreiben wir mit: «vereinigen – stärken – ermutigen». Zwar gehört es zu unserer helvetischen Mentalität, möglichst individuell den eigenen Weg zu beschreiten. Dazu kommt noch das pietistische Erbe, das uns sagt: ‘Wirke treu im kleinen Kreis, sei ein Vorbild im Stillen, suche überall nach dem Frieden!’ Darin liegt manche geistliche Weisheit verborgen. Doch ist damit schon alles gesagt über den Kampf für die Sache Jesu in einer post-christlichen Gesellschaft? Haben wir schon progressive Aktivisten gesehen, die sagten: ‘Jeder von uns muss an seinem Ort ein Vorbild sein und im Stillen wirken’?

Meines Erachtens müssen sich dringendst all jene zusammenschliessen, denen eine reformatorische und sich zur Wahrheit der ganzen Heiligen Schrift bekennende Kirche am Herzen liegt. Natürlich ist jeglicher Zusammenschluss immer ein Kompromiss. Uns Theologen fordert es heraus, in eine Gemeinsamkeit einzuwilligen, die nicht bis ins Detail aus der eigenen Feder stammt. Bedenkt doch dies vor Gott im Gebet, ob es jetzt nicht ein Gebot der Stunde ist, als Pfarrschaft in eine «Bekenntnis-Gemeinschaft» zu treten? Wir stehen in einer tiefen geistlichen Not in Kirche und Theologie - sie gründet im Verlust der Bibel, darum auch im Verlust des biblischen Christus, letztlich im Verlust des lebendigen Gottes wie die Heilige Schrift ihn uns offenbart. Dies in aller Direktheit anzusprechen führt uns in eine geistliche Kampfsituation hinein. Längst fällige Kontroversen brechen dadurch auf. In diesen zu bestehen erfordert von uns ein hohes Mass an Mut. Wir müssen bereit sein, die «kirchliche Komfort-Zone» zu verlassen! Natürlich hätten wir alle gar keine Zeit dafür, da die tägliche Arbeit im Pfarramt unsere Kräfte fordert. Der rasante Zerfall unserer Kirchen drängt aber, die richtigen Prioritäten zu setzen. Unsere Generation könnte Augenzeuge davon werden, wie die geistliche Substanz vollständig aus unserem Land verdunstet!

Die nächste Tagung des Netzwerks «Bibel und Bekenntnis» findet statt: Am Samstag, 30.September 2023, 9.00 – 17.00 Uhr, Theologisch-Diakonisches Seminar Aarau. Anmeldung vorgängig nötig unter: www. bibelundbekenntnis.ch/tagung. Das Tagungsthema lautet: «Rede und schweige nicht!»

In der Liebe Jesu verbunden grüsse ich Euch herzlich:

Willi Honegger

PS: Gerne weise ich bei dieser Gelegenheit auf ein neues Buch hin: Carl R. Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, Verlag Verbum Medien, 2022 (Buchrezension dazu auf: https://bibelundbekenntnis.ch/blog/aufstieg-und-triumph-des-modernen-selbst).

Selten hat mich ein Buch derart fasziniert, weil es die grossen Linien aufgezeigt, in der wir als Gesellschaft und als Kirche stehen. Auch heilt uns diese Lektüre von der Illusion, wir könnten uns mit ein paar Abwehrmassnahmen vor dem Einfluss der post-modernen Identitätspolitik schützen. Es braucht eine ganz neue Begegnung der Kirche mit der Kraft des biblischen Wortes, um zu jener Heiligkeit zurückzufinden, die der Kirche von ihrem Herrn verheissen ist; und die sie schützt auf ihrem Weg durch unsere verwirrenden Zeiten.

Zum Autor

Pfr. Willi Honegger ist Pfarrer in Bauma ZH.



[1] Dieser Brief geht an ca. 180 Pfarrpersonen unserer Landeskirchen. Man darf ihn gerne an Freunde und Interessierte weitergeben. Die Tagungen des Netzwerks «Bibel und Bekenntnis» sind nicht nur an Verkündiger, sondern an alle kirchlich Engagierten in allen Landes- und Freikirchen gerichtet. Auf www.bibelundbekenntnis.ch könnt Ihr Euch anmelden für den regelmässigen Newsletter sowie für das Abo auf dem Youtube-Kanal.