Gottesdienst der Gemeinde – mehr als ein Event

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Videoaufnahme des Vortrags (Youtube)

Der Gottesdienst der Gemeinde:[1] Das ist im Grunde genommen ein fast unerschöpfliches Thema, so wie schon seit vielen Tausend Jahren Gottesdienste gefeiert werden, in Israel und in der christlichen Gemeinde seit Pfingsten.

Allerdings, während es bis vor etwa 250 Jahren klar war, dass es im Gottesdienst um ein Geschehen zwischen dem dreieinigen Gott und seinem Volk geht, hat sich seit dem 19. Jhdt. unter dem Theologen Schleiermacher[2] und seinen Nachfolgern eine andere Sicht entwickelt. Sie legt den Akzent auf den religiösen Menschen. Dieser stellt im Gottesdienst sein frommes Bewusstsein dar und will sich der «schlechthinnigen Abhängigkeit vom Göttlichen» vergewissern. Dieses Bewusstsein schlummert in jedem Menschen und bedarf nur der Weckung, ausgelöst durch den Pfarrer, den Schleiermacher einen «Virtuosen» nennt. So wurde aus dem Gottesdienst primär ein menschliches Geschehen. Diese Sicht ist auch im 21. Jahrhundert vorherrschend. Der Akzent ist auf Performanz, auf Inszenierung, auf Ästhetik gerichtet. Der persönliche Glaube drängt nach Mitteilung und Austausch. Der Mensch erhebt sich zu Gott oder allgemeiner gesprochen zum Göttlichen. Alles wächst aus der religiösen Erfahrung, die sich im Gottesdienst mitteilt. Darüber ist viel geschrieben und nachgedacht worden. Ich kann das hier nicht im Detail referieren.

Bei der Vorbereitung dieses Referats bin ich auf ein Bibelwort gestossen, das uns heute leiten soll im Nachdenken über das Wesen des Gottesdienstes. Wir finden es im Hebräer 12. Ich lese VV. 18-25.


18 Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte und das mit Feuer brannte, nicht zu Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter 19 und nicht zum Schall der Posaune und zum Klang der Worte. Die das hörten, baten, dass ihnen kein Wort mehr gesagt würde; 20 denn sie konnten’s nicht ertragen, was da gesagt wurde: »Und auch wenn ein Tier den Berg anrührt, soll es gesteinigt werden.« 21 Und so schrecklich war die Erscheinung, dass Mose sprach: »Ich bin erschrocken und zittere.« 22 Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zur Festversammlung 23 und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten 24 und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut. 25 Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die den abwiesen, der auf Erden den Willen Gottes verkündete, wie viel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen, der vom Himmel her redet.


Wir konzentrieren uns auf die Verse 22-25. Sie tun uns die Augen auf für den Ort der Kirche und weisen uns damit hin auf den Ort und das Wesen des Gottesdienstes.

V. 22 beginnt mit den Worten: «Sondern ihr seid gekommen...» Das Wort «Sondern» drückt ein Gegenüber zum Vorausgegangenen aus. Die Kirche Jesu Christi ist nicht mehr dort, wo das Volk des alten Bundes seinen Ort hatte, am Horeb, wo Gott mit ihm den Bund geschlossen und ihm die Thora gegeben hat.

Wir sind als Kirche Jesu Christis an einem anderen Ort. In diesen Bibelversen, wie überhaupt im Hebräerbrief, wird tüchtig aus dem Alten Testament geschöpft: Wir sind zum Berg Zion hinzugetreten. (Jesaja 2, 3: «Kommt und lasst uns gehen zum Berg des HERRN, zum Haus des Gottes Jakobs.» Völkerprozession). Der Berg Zion ist hier kein irdischer Ort, sondern das himmlische Jerusalem. Es ist die Stadt, von der es in 11, 10 heisst: «Abraham wartete auf die Stadt mit den festen Fundamenten, deren Planer und Erbauer Gott ist.» Von ihr heisst es am Ende des Briefes: «Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.»

Da ist noch mehr: Wir sind zur Festversammlung der unzählbaren Scharen von Engeln getreten, die um den Thron Gottes sind und ihm ewig singen: «Heilig, heilig, heilig ist Jahwe der Heerscharen (Jesaja 6 – Offb. 4, 8), der war, der ist und der kommt.» Er ist der Richter über alle. Wir sind verbunden mit der Gemeinde der Erstgeborenen und den Geistern der vollendeten Gerechten.

Wie sind wir dorthin gelangt? Wie ist uns das geschehen? Es uns gegeben durch den Hohepriester Jesus Christus, den Mittler, der sein Blut für uns vergossen hat und sich selbst Gott dargebracht hat als makelloses Opfer. Jesus ist der Mittler des neuen Bundes (9, 15). Er ist hineingegangen in das Heiligtum, das nicht von Menschen gemacht worden ist (9, 24.) Er ist in den Himmel selbst eingegangen, in das Allerheiligste. (10, 22): «So haben wir nun, liebe Brüder und Schwestern, durch das Blut Jesu die Freiheit, ins Heiligtum einzutreten.- Lasst uns also hinzutreten (das gleiche Wort wie in 12, 22) mit aufrichtigem Herzen in der Fülle des Glaubens, das Herz gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser.»

Das ist der Ort der Kirche Jesu Christi. Das ist darum auch der Horizont des Gottesdienstes. Letzteres wird klar, wenn wir in 10, 23-25 ermahnt werden: «Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsre Versammlung, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.»

Zur Frage nach dem Wesen des Gottesdienstes der Gemeinde werden wir hier an den Ort gewiesen, wo er stattfindet. In barocken Kirchen kann man etwas davon sehen, wenn man zur Decke hinaufschaut. Da werden unsere Augen zur himmlischen Welt geleitet. Gewiss findet der Gottesdienst auf Erden statt, in der Kirche, im Haus Gottes. Aber wir sind nicht unter uns! Wir machen nicht unseren Gottesdienst! Der Gottesdienst ist nicht eine Veranstaltung, in der wir schöne Erinnerungen pflegen und einander sagen, was uns der Glauben bedeutet oder wo wir unsere emotionalen Batterien gegenseitig aufladen und unser religiöses Bewusstsein stärken durch den Genuss guter Performance in Wort und Musik.

Wir sind nicht unter uns. Gott sei Dank! Wir feiern Gottesdienst unter dem offenen Himmel, wo der ewige Gottesdienst gefeiert wird. Dass damit nicht eine plumpe Sicherheit vermittelt werden soll, wird klar, wenn wir gewarnt werden: «Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die den abwiesen, der auf Erden den Willen Gottes verkündete, wie viel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen, der vom Himmel her redet.» (12, 25) – Davor werden wir gewarnt: Gott abzuweisen, der zu uns spricht. Wir können unsere Ohren verschliessen vor seinem Reden, auch vor seinem Mahnen. Wir können das Bekenntnis zu Jesus aufgeben unter Anpassungsdruck. Dann verlieren wir alles. Es gibt also auch hier – wie schon zu Zeiten Israels – keine billige Sicherheit im Sinne von: «Um den lieben Gott müssen wir uns keine Sorgen machen. Der findet unser Tun sowieso gut und hat Freude, wenn es noch einige gibt, die ihn noch nicht vergessen haben.»

Im Folgenden möchte ich in Thesen aussagen, welches das Fundament des Gottesdienstes ist und was ihn ausmacht.

1. Gottesdienst wird gefeiert, weil Gott in Jesus Christus zu unserem Heil gehandelt hat. Den Gottesdienst als Versammlung der Gemeinde im Namen von Jesus gibt es erst seit Pfingsten. Peter Brunner[3] schreibt: «Er (der Gottesdienst) steht am Ende der Wege, die Gott mit den Menschen gegangen ist, um ihnen die Vollendung des Heils zu schenken.» Gott hat sein Wort am Ende der Zeit gesprochen (Hebr. 1, 1-3). Im Unterschied zu unseren Worten hat Gott so gesprochen, dass sein Wort in Jesus Fleisch geworden ist. Als Mensch hat Jesus den Dienst des wahren Hohepriesters erfüllt und sein Leben für sein Volk hingegeben: Er ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweggetragen hat und für Gott ein Volk aus allen Völkern erworben hat (Offb 5, 9-10). Jesus ist auferstanden von den Toten und zum Vater aufgefahren und hat den Heiligen Geist auf sein Volk ausgegossen. Von nun an versammelt er seine Gemeinde zum Gottesdienst. Jesus, der gekreuzigte und auferstandene Herr ist das Fundament des Gottesdienstes. Jesus ist für uns gestorben und auferstanden. Er hat alles vollbracht, um uns verlorene und verdammte Menschen zu sich zu ziehen. Gott hat uns gerettet in Jesus. P. Brunner: «Weil Jesus unser Leben seinem Leib eingezeichnet hat, darum hat er uns mit seinem Leib in den blutigen Gerichtstod eingetaucht.» Mit seiner leiblichen Auferstehung hat er uns durch den Tod ins ewige Leben gerissen. Darum feiern wir Gottesdienst.

2. Der Gottesdienst ist zugleich der Ort, an dem wir uns ausstrecken auf das Wiederkommen unseres Herrn. Jesus ist noch nicht erschienen. Wir leben noch zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft. Das bestimmt auch den Gottesdienst. Wir sind unterwegs – wie Israel auf der Wüstenwanderung- in das verheissene Land. Wie Gott Israel in der Stiftshütte begleitete auf seinem Weg, so ist es mit dem Gottesdienst. Auf dem Weg durch die Wüste, durch das Land des Todes hin zur neuen Schöpfung, zum himmlischen Jerusalem, feiern wir Gottesdienst. Der Gottesdienst ist keine triumphalistische Darstellung des frommen und vollendeten Menschen. «Es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden» (1. Joh. 3, 2). Vollendet sind wir noch nicht, sondern bleiben angewiesen auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Wir brauchen den Zuspruch des Evangeliums, das «Dennoch» der Treue Gottes. Weil wir das Evangelium jeden Tag vergessen, müssen wir immer wieder daran erinnert werden. Weil wir immer wieder unsere eigenen Wege gehen, müssen wir umkehren, «Busse tun». Wir müssen auch an das Ziel unseres Laufes erinnert werden. Denn wir puppen uns nur allzu schnell ein in unseren Wohlstandkokon. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem wir erinnert werden, nicht den falschen Göttern zu dienen und uns nicht auf falsche Sicherheiten zu verlassen: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir ein weises Herz gewinnen.»So das heilsame Gebet, damit wir uns nicht verlieren an das Hier und Jetzt. Herausgefordert müssen wir werden, das Ziel vor Augen zu halten. Getröstet müssen wir werden, weil wir sonst in die Angst vor dem Tod fallen und unsere himmlische Hoffnung vergessen. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem wir uns ausstrecken auf das Wiederkommen unseres Herrn.

3. Der Gottesdienst ist der Ort, wo uns Gottes Wort verkündigt wird. Martin Luther formulierte es so bei einer Kirchweih: «Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt dieses neue Haus einsegnen und weihen unserem Herrn Jesus Christus, [...] auf dass nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.»

Im Gottesdienst geschieht die Erinnerung an die grossen Taten Gottes und an seine Verheissungen. Diese Erinnerung bezieht sich auf alle Taten Gottes: Auf die Erschaffung und Erhaltung der Schöpfung, auf die Erwählung und Führung des Volkes Israel und der Kirche und vor allem – wie wir in These 1 gehört haben- auf seine Heilstat im Tod Jesu Christi und seiner Auferstehung. Wir werden ausgerichtet auf die Wiederkunft Jesu Christi und die Erneuerung von Himmel und Erde.

Dazu ist uns die ganze Heilige Schrift gegeben, Altes und Neues Testament. Zuspruch und Anspruch, Gabe und Forderung Gottes werden ausgesprochen und empfangen.

Unser Herr will zu uns reden. Es ist ein Geheimnis, wie das geschieht. Es ist ein Geschenk, dass/wenn es geschieht. Wir hören auf das biblische Wort. Wir hören eine Predigt, schwache menschliche Worte. Aber in, mit und unter diesen Worten spricht Gott selbst zu uns. Er ergreift das Wort. Auch bei der Feier des Abendmahls sehen wir unscheinbare Zeichen: Brot und Wein. Und doch gibt sich uns Jesus Christus unter diesen Zeichen. Es ist ein Wunder, das der Heilige Geist wirkt. Wir können es nicht durch irgendwelche menschlichen Bemühungen bewirken, weder durch eine brillante Rhetorik noch durch eine Performanz und Gestik, die sich der Theaterwissenschaft bedient. Es will erbeten sein. Es muss vom Verkündiger erbeten werden bereits in seiner Vorbereitung. Es muss von der Gemeinde erbeten werden, in dem sie für den Verkündiger und für sich betet. Sie sollen in der Erwartung und mit der Bitte in den Gottesdienst kommen, dass Gott heute zu ihnen spricht und ihnen das Ohr öffnet. Im alten Gesangbuch der reformierten Kirche (1952) fand ich folgendes Gebet:

«Lieber Gott und Vater, du hast mich gerufen zu der Gemeinde, die sich vor dir versammelt, um dein Wort zu hören und dich zu verehren. Hilf, dass ich mit ganzem Herzen dabei bin, wenn wir dich anbeten und deinem Namen lobsingen. Ich danke dir, dass du mich durch deine Treue bis jetzt bewacht und behütet hast und dass du erlaubst, heute zu feiern inmitten deiner Gemeinde. Und weil in dieser Stunde dein Wort verkündigt wird, so segne Herr, die Predigt an mir und an allen, die sie hören. Erleuchte den Diener deines Wortes mit der Kraft des Heiligen Geistes, dass er die heilsame Wahrheit tapfer und unverfälscht bezeuge. Wehre dem bösen Feind, dass er nicht Unkraut unter deinen Samen streue. Lass deine Stimme mir so zu Herzen dringen, dass dein Wort mich lehre, mahne und tröste.» So zu beten war man angehalten, bevor der Gottesdienst begann.

Ganz tief ist es die Überzeugung der Reformation, die sie aus der Bibel lernte: Die Kirche ist ein Geschöpf des Wortes Gottes. Zwingli sagte: «Welches ist Christi Kilch? Die sin Wort hört. Wo ist die Kilch? Durch das ganze Erdrich hin. Wer ist sie? Alle Gleubigen. Wer kennt sie? Gott.»

Gott dient der Gemeinde durch Wort und Abendmahl. Durch beide macht er den Kreuzessieg Christi und seine Wiederkunft gegenwärtig und nimmt uns durch den Heiligen Geist in sein Heilshandeln hinein.[4]

Der Glaube wird nicht unmittelbar von Gott gewirkt, sondern Gott wirkt den Glauben mit Hilfe der Predigt: In diesem Sinn ist auch die Verkündigung ein Gnadenmittel Gottes. Der Heilige Geist wirkt den Glauben in uns, wenn wir das Wort Gottes hören. Der Apostel Paulus sagt es klar: «Also kommt der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber geschieht durch das Wort von Christus.» (Röm 10, 17) Auch hier wieder, wie schon in den Bemerkungen zum Abschnitt aus dem Hebräerbrief ist zu sagen: Das ist kein Automatismus. Das ist keine Wortmagie. Es ist immer ein gnädiges Wirken Gottes, wenn uns das Wort Gottes so erreicht, dass es Glauben in uns bewirkt. Dass das Wort Gottes auch Verstockung und Verhärtung bewirken kann, ist ebenso eine Realität, eine Realität seines Gerichts.

Es bestand schon vor der Reformation das Format eines Wortgottesdienstes, der unabhängig von der Messe gefeiert wurde. Die schweizerischen Reformatoren Zwingli, Bullinger und Calvin übernahmen diese Form und legten auf die Wortverkündigung den Hauptakzent. Zwingli begann mit der Auslegung des Matthäusevangeliums. Statt Heiligengeschichten zu erzählen, wollte er die ganze Bibel durchpredigen. Die Predigt stand von nun an im Zentrum des Gottesdienstes. Es ist die Predigt im Sinn der Schriftauslegung. Die Heilige Schrift ist Führerin und Lehrerin der Kirche. 2. HB 1. Kapitel: «Wir glauben und bekennen, dass die kanonischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testamente das wahre Wort Gottes sind.» Weil die Bibel die Heilige Schrift und Gottes Wort ist, will Gott durch sie zu uns sprechen. Darum soll sie verkündigt werden und wir sollen auf sie hören. Das Wort wird uns verkündigt: Es wird von aussen an uns herangetragen. Wir tragen es nicht schon immer in uns. Das widerspricht natürlich unserem modernen Denken, das allen Akzent auf das persönliche Empfinden legt. So lesen wir z.B. auf der Homepage der Zürcher Kirche im Zusammenhang mit dem Zwingli Film (2019): «Der Gottesdienst will Menschen dazu ermutigen, selber zu reformieren – das heisst vor allem, für Veränderungen offen zu sein und den Alltag mit seinen Herausforderungen mutig anzunehmen und zu gestalten. Dazu gehört gegebenenfalls, Altes loszulassen und Neuem Raum zu geben. Zwingli hat auf Freiheit und Mündigkeit des Menschen verwiesen. So können wir selber denken, selber handeln, selber reformieren.» Wir sehen hier deutlich, wie es heute auch in der Kirche zu einer Umkehrung der Begriffe kommt. Zwingli hat das nie gesagt, was hier von ihm behauptet wird. Für ihn war es vielmehr klar: Die Kirche hört auf Gottes Wort, auf die Stimme des guten Hirten und nicht auf die Stimme eines Fremden. Vom Wort wird ihr Glaube, ihr Denken und Handeln geprägt und vor Gott – nicht vor sich selbst – verantwortet. Nicht Autonomie (Selbst als Gesetz), sondern Theonomie (Gottes Gebot): So haben die Reformatoren gedacht. Das ist ein Stachel für den modernen Menschen. Wenn man ihn ziehen will, weil man ihn nicht erträgt, verkommt alles zu Aktionismus und Moralismus.

4. Der Gottesdienst wird gefeiert, weil Gott an uns gehandelt hat in Jesus Christus und an uns handeln will durch sein Wort und seinen Heiligen Geist. Ich bin mir bewusst, dass ich im Folgenden etwas überzeichne, wenn ich sage: Der Gottesdienst ist keine Vereinsversammlung von religiös Interessierten, die die Traktanden selbst bestimmen. Er ist mehr als eine Veranstaltung oder ein Event, durch den ein Moderator führt wie Thomas Gottschall durch «Wetten dass… ». Er findet nicht vor einem Publikum statt. Die Begriffe, die manchmal verwendet werden, verraten mehr über das Verständnis des Gottesdienstes als man wahrhaben will. Ein «Event» braucht einen Eventmanager. Er plant und organisiert zusammen mit anderen den Sonntagmorgenevent. In der Moderation wird abgestimmt, wer wann was sagen oder tun soll. Der Moderator steht auf der Bühne, zusammen mit der Band. Dort stehen ein Bistrotisch oder zwei Polster, in denen man sich niederlässt, um einen Talk zu führen. Der Gottesdienst beginnt mit einem Countdown, wie der Vorspann zum Tatort. Der Moderator begrüsst mit einem Witz die Leute, die zum Event gekommen sind und übergibt dann der Band für den weiteren Verlauf. Sie lädt ein zum Worship… usw.

Ich möchte mit diesen Bemerkungen keineswegs sagen, dass der Gottesdienst eine Soloveranstaltung des Pfarrers sein muss und wir nur Lieder singen sollten, die mindestens 150 Jahre alt sind. Das kann ebenso defizitär sein wie ein Geschehen, das auf einer Bühne geschieht und dem man als Publikum beiwohnt. Was auf der Bühne geschieht, ist vielleicht offensichtlicher ein Event, etwas, das vorgetragen und entsprechend begutachtet und beklatscht wird. Auch der traditionelle Gottesdienst steht in der Gefahr, ein Zirkus der Eitelkeit des Pfarrers oder des Organisten zu sein. Der traditionelle Gottesdienst hat auch seine Schlagseiten, etwa dass er eher zu einer Lehrveranstaltung führt oder seit einigen Jahren zu einer politisch-moralischen Agitationsveranstaltung. Alles kann so staubtrocken sein, so wenig in Erwartung des Geistes und der Kraft Gottes, dass man ohne Trost und Herausforderung nach dem Gottesdienst nach Hause geht. Gottesdienst der Gemeinde ist nicht ein Event, den wir Menschen organisieren und abstimmen auf ein bestimmtes Publikum. Er ist auch keine Lehrveranstaltung wie eine Schulstunde: Der Gottesdienst ist eine Begegnung mit Gott.

Der Gottesdienst wird gefeiert vor Gott, dem Heiligen Gott, im Namen des dreieinigen Gottes. Er sammelt uns zum Gottesdienst. Deshalb beginnt ein Gottesdienst nicht mit einem «Witz» oder einem «Hoi zäme», sondern mit dem Wort Gottes. Wir sollen Gott begegnen und dazu braucht es von unserer Seite auch eine gewisse Vorbereitung und Einstimmung. Wir beten darum, dass die Türen unserer Herzen sich öffnen für unseren Herrn Jesus Christus. Wir feiern vor Gott. Vorne steht nicht eine Bühne, auf der jetzt eine Performance stattfindet. Da ist – je nach Konfession – der Abendmahlstisch/Altar, der Taufstein, der Tisch mit der aufgeschlagenen Bibel, ein Kreuz. Wir hören die Verheissung Gottes: Gott ist bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind. Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.

Ich bin mehr und mehr überzeugt, dass auch moderne Menschen Formen suchen, in denen sie zuhause sein können, Heimat für ihre Seele, die die ganze Woche in einem Strudel von Eindrücken hin- und hergerissen wird. Sie brauchen eine kräftige Kost, um in den Herausforderungen des Alltags bestehen zu können. Heute, in einer zunehmenden Ahnungslosigkeit bezüglich biblischer Lehre, ist es wichtig, nicht immer dem neuesten Trend nachzuspringen. Vielmehr braucht es durch gesunde Unterweisung eine stete Erinnerung an das, was wirklich trägt und ewig bleibt. Die Gemeinde, ja wir alle, auch die Verkündiger, brauchen die immer neue Erinnerung an Gottes Zusagen und an seine Gebote für unser Leben. Jesus sagte: «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.» In Abwandlung dieses Wortes möchte ich sagen: «Moden und Zeitgeschmack kommen und gehen, aber das Wort Gottes bleibt.» Im Gottesdienst hilft uns unser Herr Jesus zur Neuorientierung unseres Lebens, zum Trost inmitten der Trostlosigkeit der Welt, zum Frieden mitten in der Hektik der selbstgemachten, säkularen Heilskonzepte.

5. Gottesdienst ist Dienst der Gemeinde für Gott. Die Gemeinde ist nicht passiv, nur sozusagen konsumierend, was ihr geboten wird. Auch sie dient im Gottesdienst: Zunächst damit, dass sie Gottes Dienen annimmt. Dass sie auf ihn hört und seine Gaben empfängt. Dieses Empfangen zeigt sich in ihrer Hingabe an Gott. Hingabe vollzieht sich in der Abkehr von sich selber, ihrem Eigenwillen und ihrer Sünde. Das Bekenntnis der Sünde hat einen wichtigen Platz im Gottesdienst: Hier bekennt die Gemeinde ihre Rebellion und ehrt Gott, in dem sie ihm recht gibt: «Auch für uns hast du deinen Sohn hingegeben. Wir leben von deiner Gerechtigkeit, die du uns schenkst!» In Gottesdienst geschieht so die Re-Orientierung zu Gott. Die Gemeinde dankt Gott in Wort und in den Liedern. In Lob und Anbetung stimmt sie ein in den ewigen Gottesdienst. Die Welt mag Gott die Anbetung verweigern und sich falschen Göttern ausliefern. Im Gottesdienst erhebt die Gemeinde den Namen Gottes und ehrt ihn in der Doxologie. Sie stimmt ein in den aussermenschlichen Lobgesang. Im Gottesdienst hebt der Lobpreis an, auf den hin Gott das All erschaffen hat. Himmel und Erde sollen Gott rühmen und besonders der Mensch als sein Ebenbild. Das geschieht im Gottesdienst. So ist die Gemeinde schon der Mund des Lobpreises, den die ganze Schöpfung einmal Gott darbringen wird. Gleichzeitig sehen wir im Lobpreis Gottes von unserer Schwachheit, Armut und Not weg auf den Herrn, der alles in seiner Hand hält, die Welt in Aufruhr und unser kleines Leben mit unseren persönlichen Nöten und dunklen Seiten.

Sie bekennt ihren Glauben mit der weltweiten Kirche. Sie betet für die weltweite Kirche, für die verfolgte Gemeinde und für die Mission. Sie sammelt ein Opfer für die Kirche in Not und setzt so ein Zeichen ihrer Treue zur «einen allgemeinen, christlichen Kirche». Die Gemeinde dient in den Menschen, die im Namen Gottes den Gottesdienst leiten, das Wort verkündigen, den Gesang leiten und Beten. Sie sind Werkzeuge Gottes, die in der Gemeinde der Gemeinde dienen mit ihren Gaben. Es ist nur Einer Herr, unser Herr Jesus Christus. Von ihm und zu ihm hin feiert die Gemeinde Gottesdienst.

Zum Autor

Pfr. Dr. Jürg H. Buchegger, Frauenfeld, ist pensionierter Pfarrer und ehemaliger Prorektor und Dozent an der STH Basel.


[1] Schriftliche Version des Vortrags, der am 18. März 2023 an der Tagung des Netzwerks Bibel und Bekenntnis Schweiz im Ref. Kirchgemeindehaus Winterthur-Seen gehalten wurde.

[2] Friedrich Daniel Schleiermacher 1786-1834. Ausführungen angelehnt an Luca Baschera, Hinkehr zu Gott. Göttingen 2017, S. 11-23.

[3] Peter Brunner, Pro ecclesia. Gesammelte Aufsätze zur dogmatischen Theologie, Band 1 (Berlin 1962. S. 129-137).

[4] E. Schlink, Ökumenische Dogmatik, Göttingen, 1983. S. 573.