«Ich hab doch das Neue, wozu brauch ich noch das Alte?»

Hintergründe eines törichten Geredes über das Alte Testament

[gekürzte schriftliche Fassung]

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Hinführung: Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – oder doch nicht?

Wer auch nur die ersten Seiten des Neuen Testaments gelesen hat, sollte sich vollkommen darüber im Klaren sein, daß die Schriften, deren Kenntnis und kanonische Gültigkeit dort vorausgesetzt werden, weiterhin für die Kirche unverzichtbar sind. Wer immer noch daran zweifelt, braucht nur die Anfänge der weiteren Schriften durchzugehen, um Gewißheit zu erlangen. Sie setzen alle beim Alten Testament an und betonen den organischen Zusammenhang zur folgenden Ge-schichte von Jesus. Für die Autoren des Neuen Testaments wäre der Gedanke, sich vom Alten Testament zu lösen, absurd erschienen. Selbst Paulus, der die Christen blutig verfolgte, solange er Jesus nicht als den vom Alten Testament vorausgesehenen und im Alten Testament präexistenten Gesalbten glauben konnte, hat nach seiner Bekehrung nie dem Alten Testament die Schuld für seinen Irrtum gegeben (Otto Michel, Paulus und seine Bibel). Den Römerbrief beginnt er programmatisch:

1 Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, 2 das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, 3 von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, 4 der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt, durch die Auferstehung von den Toten – Jesus Christus, unserm Herrn.

Das Evangelium, das Paulus zu uns Heiden bringt, ist das, das er verheißen durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, es handelt vom Sohn Gottes und Sohn Davids, Gottes und Marien Sohn, gelobt sei er in Ewigkeit!

In seiner Rechtfertigung vor König Agrippa sagt Paulus ebenfalls:

Apg 26, 22f.: 22 Aber Gottes Hilfe habe ich erfahren bis zum heutigen Tag und stehe nun hier und bin sein Zeuge bei Klein und Groß und sage nichts, als was die Propheten und Mose gesagt haben, daß es geschehen soll: 23 daß Christus müsse leiden und als Erster auferstehen von den Toten und verkündigen das Licht seinem Volk und den Heiden.

Auch hier: Die Begründung für das Wirken des Apostels, für seine Erkenntnis, aber auch die seinsmäßige Grundlage für das ganze Christusgeschehen liegen im Alten Testament. Sogar das Pfingstereignis, in dem sich doch ganz spezifisch Neutestamentliches ereignet, wird erklärt und begründet mit einem Zitat aus Joel (Apg 2).

Daß in gewissen Wellen der Kirchengeschichte seit dem 2. Jahrhundert, also seit Marcion, der von liberalen Theologen von Harnack bis Lietzmann[1] (1953, mit ausführlichem Bezug auf Harnack) hochgeschätzt wurde, immer wieder einmal der Gedanke aufkommt, man könnte sich der Texte entledigen, die soviel Sprengstoff enthalten wie das Alte Testament, muß also Gründe haben, die außerhalb des Neuen Testaments liegen. Ich bin überzeugt, daß die Osteoporose, der Knochenschwund der Kirchen und das Aufkommen der gnostischen und leibfeindlichen Genderideologie auch damit zu tun hat, daß man zu wenig oder gar nicht Altes Testament gelesen, gelehrt und geglaubt hat.

Lassen wir nun ein paar solcher Einreden, die in den letzten Jahren durch die säkulare und kirchliche Presse marschieren, Revue passieren. Es geht im folgenden um fünf Gruppen von Widersprüchen gegen das Alte Testament, die ich an ausgewählten Beispielen vor Augen will:

  1. Widerspruch gegen das Alte Testament im Namen einer humanen Ethik,
  2. Widerspruch gegen das Alte Testament im Namen der pastoralen Verwendbarkeit,
  3. Widerspruch gegen das Alte Testament im Namen eines neu interpretierten Neuen Testaments,
  4. Widerspruch gegen das Alte Testament im neo- oder postevangelikalen Bereich, und
  5. Widerspruch gegen das Alte Testament aus Bequemlichkeit und Denkfaulheit.

1. Widerspruch gegen das Alte Testament…

1. …im Namen einer humanen Ethik

Einwände gegen die Bibel und gegen das Alte Testament insbesondere erhob der Freiburger Psychologe und Kliniker Franz Buggle (1933–2011). In seinem Buch „Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann“ (1992) schrieb er, als wäre Widerspruch zwecklos:

„Sollte nicht allmählich auch dem letzten klarwerden, daß die wirklich gewichtigen Einwände gegen die Bibel nicht so sehr anthropologischer Art sind? Daß Gott die Welt nicht in sieben Tagen erschaffen hat, oder ob die Sonne stillstand oder nicht, stellen kaum die heutigen Probleme mit der Bibel dar – hier wird häufig gegen Ersatzargumente, ‚Pappkameraden‘, gekämpft –, sondern daß das ethisch-moralische Niveau des biblischen Gottes, der ja die Verkörperung des höchsten Gottes sein sollte, in vielen seiner Aussagen sich so archaisch inhuman erweist, daß es jedem heute lebenden Menschen nicht schwerfallen sollte, eine Menge ihm bekannter Menschen zu benennen, deren, bei allen klargewordenen Schwächen und Mängeln, ethisch-moralisches Niveau das des biblischen Gottes bei weitem übersteigen dürfte: das ist doch der wesentliche Einwand, der sich ja bekanntlich nicht nur aus der Bibel speist, die hier die partiell grausame, inhumane Realität zu einem großen Teil richtig spiegelt, wenn auch inhuman-archaisch (Leiden und Übel als Strafen Gottes usw.), sondern genauso aus dem Faktum der unendlich realen Leiden der Kreatur angesichts der Behauptung, es existiere ein zugleich allmächtiger, allwissender und die unendliche Liebe selbst verkörpernder, gütiger Gott: Das alte Problem der Theodizee, von den Kirchen oder sonstigen theistischen Aposteln bis heute eher verdrängt als gelöst.“[2]

Der Maßstab für das Humane wird hier außerhalb der Bibel gesucht: Es gebe Menschen, sagt Buggle, die besser dastehen als der biblische Gott. Daß das Leid der Menschen eine Folge des Handelns eines gerechten, heiligen und allweisen Gottes sein könnte, wird a priori ausgeblendet. Der Widerspruch gegen das Alte Testament aus der Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit, des Feminismus oder der Befreiungstheologie (Ablehnung der durch Offenbarung begründeten Landnahme) gehört im Grundsatz ebenfalls hierher.

Bei dieser Gruppe des Widerspruchs und auch den folgenden begegnen uns auf Schritt und Schritt die Folgen der Bewußtseinsreligion der Aufklärung. Für J. S. Semler (18. Jh.) hätte es sittlich negative Folgen gehabt, am Alten Testament als Glaubensgrundlage festzuhalten. Für G. W. F. Hegel (19. Jh.) galt der Gott des Alten Testaments als Gott des Hasses und als das Gegenteil von humaner Religion: „Der unendliche Geist hat nicht Raum im Kerker einer Judenseele … Die jüdischen Propheten zündeten ihre Flamme an der Fackel eines erschlafften Dämons an“![3] Auch wenn Hegel später noch andere Töne von sich gab, ist die Verkehrung und der Türöffner zum Antisemitismus offensichtlich. Und Adolf von Harnack, an der Schwelle zum 20. Jh., sah in Marcion, der das Alte Testament ablehnte und das Neue von allem Alttestamentlichen reinigen wollte, einen Reformator, der die Akzeptanzprobleme des Christentums lösen könnte.

Der Gott der Christen hat so mit der Schöpfung immer weniger (um nicht zu sagen: nichts) zu tun, die atheistische Evolutionslehre kann so immer leichter akzeptiert werden, die Spannung zwischen Gott und Welt entfällt, weil am Ende jeder sich seinen Gott im eigenen Bewußtsein bildet, und jeder zur Akzeptanz der Götter der anderen verpflichtet wird.

2. …im Namen der pastoralen Verwendbarkeit

Mit Blick auf die Vergeltungswünsche der Psalmen scheint für manche Theologen oder Seelsorger die pastorale Verwendbarkeit eingeschränkt.

Ein Beispiel: Die Priorin der Dachauer Karmeliterinnen (Karmel Heilig Blut[4]), Gemma Hinricher, berichtet über ihre Erfahrungen mit dem Psalmengebet: Seit 1965 konnte in der Volkssprache gebetet werden, was wegen der Touristen auch notwendig war. Doch sie waren bald versucht, zum Latein zurückzukehren, weil sie sich in der unmittelbaren Nähe des Konzentrationslagers außerstande sahen, Psalmen, die von einem strafenden, zürnenden Gott, von der Vernichtung der Feinde in oft grausamen Bildern sprachen, vor Menschen auszusprechen, die innerlich aufgewühlt und erschüttert vom Lagerbesuch in die Kirche kommen.

„Unser Beten soll so sein, daß es Menschen anregen kann zu Versöhnung, zu Vergebung, zu Liebe. Es soll so sein, daß Nähe Gottes erfahrbar wird [man weiß also schon vorher, wer oder was Gott ist!]. ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen‘ (Mt 18,20). Im gemeinsamen Singen und Beten wird Jesus Christus als gegenwärtig erfahren, Er als der Liebende, dessen versöhnende und vergebende Liebe den Haß überwand. So war uns klar, daß für uns hier alle bibeltheologischen, literarischen und hermeneutischen Reserven bei der Streichung von Fluchpsalmen und Fluchstellen fallen mußten. Für uns steht hier an erster Stelle der pastorale Dienst an den Menschen, die diese Stätte und unsere Kirche besuchen. …“[5]

Die Priorin weist darauf hin, daß gemeinsam gesprochene Gebetstexte auch gemeinsam vollziehbar sein müßten. Ein laut vorgetragenes Gebet habe eigene Gesetze; sie vermutet, daß die Verteidiger der Fluchtexte das Stundengebet nicht gemeinsam verrichten, zumindest nicht in der Muttersprache.

Ich habe Verständnis dafür, daß man nicht Perlen vor die Säue werfen und Unverständige nicht per Würfelspiel mit für sie abseitigen Dingen konfrontieren soll. Doch die Frage, die wir von hier aus mitnehmen können, lautet, ob unsere Vorstellung von Gemeinschaft zum Kriterium für den Schriftgebrauch wird oder ob nicht umgekehrt die gemeinsame Verpflichtung auf die Schrift Gemeinschaft gründen (und natürlich auch abgrenzen) könnte und sollte.

„Vergeltungs- und Vernichtungswünsche und ähnliche Aussagen sind für den laut vorgetragenen Psalmenvortrag, für das gemeinsame Beten der Psalmen nicht tragbar. Es ist auch bei bibeltheologischer Kenntnis nicht möglich, die anstößigen Verse immer in den richtigen bibeltheologischen Raster fallen zu lassen. Jedenfalls bringen die Fluchtexte und Vernichtungswünsche bei gemeinsamem Gebet auch besondere psychologische Schwierigkeiten mit sich.“[6]

Übrigens hat Ulrich Parzany einmal berichtet, wie nach dem Massaker in einem Erfurter Gymnasium auch Feindpsalmen gebetet wurden. Warum sollte die Bitte der Psalmen um das Kommen des göttlichen Gerichts nicht gerade an einer KZ-Gedenkstätte seinen Ort haben? Wir beten ja auch „Dein Reich komme“.

3. …im Namen eines neu interpretierten Neuen Testaments

Dies geschieht zum einen in der Tradition der klassischen liberalen Theologie. Am prominentesten hat dies Notger Slenczka mit ausführlichem Bezug auf Schleiermacher, Harnack und Bultmann vorgeführt.[7] Er vertrat „die These …, daß das Alte Testament in der christlichen Kirche eine kanonische Geltung faktisch nicht mehr habe, nicht mehr haben könne und auch nicht haben solle, sondern, wie Harnack sagte, den Apokryphen gleichzuhalten sei“ (S. 7, ähnlich 274f u.ö.). Inzwischen habe sich herumgesprochen, daß er damit das Alte Testament nicht aus dem kirchlichen Gebrauch entfernen oder gar abschaffen wolle, ein Skandal also (so N.S.) nicht vorliege. Als „‚Platzhalter‘ der ‚alten Sprache‘ in der Kirche“ bleibe es sogar „unverzichtbarer Teil des ‚Kanons‘“ (290. 306).

Trotzdem waren die Vorwürfe so heftig (ausgerechnet ein Berliner Kollege brachte ihn in Verbindung mit Nazi-Theologen, 40. 296, vgl. 318), daß er sich genötigt sah, seine zahlreichen Beiträge zur Debatte nochmals gesammelt zur Verfügung zu stellen und ausführlich einzuleiten. Zurücknehmen möchte er nichts (23f). Von Antisemitismus oder Antijudaismus distanziert er sich ausdrücklich, insbesondere insofern, als s.E. das Wesen des Christentums von Universalität und Bedingungslosigkeit der Gnadenzuwendung geprägt ist, eine antisemitische Haltung dagegen gerade bestimmte Rassen abwertet, mithin nicht mehr universal und bedingungslos von der Gnade sprechen kann (24f. 306). Außerdem bekennt er sich zum „ungekündigten Bund Gottes mit Israel bzw. dem jüdischen Volk“ und zur „Überzeugung, dass das Alte Testament Dokument der Liebe und des Bundeswillens mit diesem Volk ist“[8]. Daher solle es weiterhin Predigten aus dem Alten Testament geben; er selbst hält auch solche, und neun sind im vorliegenden Band abgedruckt.

Ich frage mich, wie man die Erwählung Israels festhalten kann, wenn man das Alte Testament nicht als kanonisch maßgebend einstuft.

Universale und bedingungslose Liebe: Das ist das neuprotestantische Kriterium für die christliche Rede von Gott. Eine Scheidung unter Menschen angesichts des Evangeliums soll hier letztlich methodisch ausgeschlossen werden – daß Scheidung trotzdem ständig wieder passiert, verunsichert die neuprotestantische Theologie fort und fort.

Einige Schritte weiter gegangen sind zivilreligiös-reduktionistisch-häretische Glaubensbekenntnisse, die in die Gemeinden getragen werden. Sie atmen genau die Auflösung der kanonischen Geltung der Heiligen Schrift. Mit der Autorität des Alten wird auch die des Neuen Testaments aufgelöst. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz schlägt auf ihrer Internetseite[9] folgendes Glaubensbekenntnis vor:

Ich glaube

An das Licht in der Finsternis.

An Trost in Krankheit.

An Linderung im Schmerz.

An Nähe in der Einsamkeit.

An Klarheit trotz der Sucht.

An die Harmonie des Chaos.

Dass die Irren Recht haben.

Dass die Zartherzigen siegen.

Ich glaube

An den Aufstand gegen die Verhältnisse.

An Versöhnung im Streit.

An Gerechtigkeit die heilt.

An Vergebung, die die Vergebenden tröstet.

An immer neues Vertrauen.

Dass Grenzen fallen und wir einander neu Heimat finden lassen.

Ich glaube

an Gottes Anwesenheit

verborgen, unerkannt, in der Ohnmacht mächtig.

an innige Gemeinschaft von oben und unten,

von denen am Rand und denen an der Macht,

die Schwachen in der Mitte,

die Kinder auf dem Ehrenplatz,

den Stummen das Wort,

den Lahmen der Tanz.

Ich glaube

An das Aufstehn‘ mitten im Tod

An das Wunder neuen Lebens in dieser Welt [!]

und an die Herrlichkeit des ewigen Festsaals!

Amen.[10]

Dieses sogenannte Glaubensbekenntnis hat alles getilgt, was einmal spezifisch christlicher oder jüdischer Glaube war. Es stellt den passenden Ausdruck der zivilreligiösen Reduktionismen unserer Zeit dar, denen längst die ökumenische Bewegung den Weg geebnet hat, denken wir nur an die unsäglichen Texte des ÖRK, etwa das Glaubensbekenntnis von Seoul 1990, das endet mit:

„Ich glaube an die Schönheit des Einfachen, an die Liebe mit offenen Händen, an den Frieden auf Erden.“

Eine andere Schattierung der gleichen Kategorie bietet Christiane Tietz, Professorin für Systematische Theologie in Zürich. Im Sonntagsblatt-Interview sagt sie 2021: „Die Bibel ist Wort Gottes, weil sie berührt.“ Was aber ist, wenn die Bibel mich nicht berührt, sondern gleichgültig läßt oder gar abstößt? Für Franz Buggle war sie dann nicht Gottes Wort.

Warum es sich lohnt, die Bibel zu lesen, wird sie im Interview gefragt. Ihre Antwort: Es lohnt sich, weil die biblischen Figuren gerade im Alten Testament „äußerst spannend sind“. „Auch ist die westliche Kulturgeschichte ohne ihre Kenntnis nicht zu verstehen.“ Auf die Frage: „Was ist die Bibel?“ antwortet sie:

„Ein menschliches Zeugnis davon, wie Gott den Menschen begegnet ist und zu ihnen gesprochen hat. Die Bibel ist ein menschliches Wort über Gottes Reden zum Menschen.“

Die entscheidende Schranke sieht sie durch die Philosophie gesetzt, nicht durch die Bibel selbst: Immanuel Kant habe geschrieben, daß „Gott sich der inneren Weltwirklichkeit entzieht“, und daher lasse sich nur mit Karl Barth der „historische Rand“ der Auferstehung feststellen, d.h. einfach: Menschen haben erzählt, sie seien dem Auferstandenen begegnet.

Kriterium für das, was aus der Bibel als Reden Gottes gelten darf, ist hier wieder der Mensch. Ein „So spricht der Herr!“ ist ausgeschlossen, es gibt nur noch ein: „Ich habe es so verstanden, daß da ein Mensch ist, der sagt, Gott habe gesagt, daß …“ Folgerichtig wird die Frage, welcher der vielen Interpretationsarten der Bibel berechtigt seien, ob psychoanalytisch, tiefenpsychologisch, feministisch, oder befreiungstheologisch, von der Theologieprofessorin so beantwortet:

„Immer dann [sind sie berechtigt], wenn sie helfen, etwas von der biblischen Botschaft der Befreiung zu erfahren.“

Die biblische Begrifflichkeit von Sünde und Gnade, Opfer und Rechtfertigung ist verdrängt, ersetzt durch die Erfüllung zeitaktueller Bedürfnisse. Das Alte Testament darf behalten werden, wenn es spannende Geschichten und einen Beitrag zur Befreiung liefert. „Die Bibel ist Gottes Wort, weil sie berührt“, ist in der Tat so zu lesen: „wenn sie mich positiv berührt, und was das ist, entscheide ich selbst.“

Das, liebe Freunde, ist der Kern unserer Krise: Die Selbstermächtigung des Menschen, die Verdrängung Gottes als aktives und kritisches Gegenüber zum Menschen. „De facto wird der Gott der Bibel eingesperrt in den Käfig des menschlichen Bewußtseins, d.h. in die Provinz menschlicher Subjektivität und Innerlichkeit“, schreibt Armin Sierszyn. Die Wirklichkeit wird auf den Bereich des autonomen Bewußtseins beschränkt. Nur von hier aus ist erklärbar, warum sich ein Mann zur Frau deklarieren kann und dies für das Gegenüber eine seinsbestimmende Aussage werden soll. Der Denkansatz ist gnostisch: „An die Stelle des biblischen Gottes, der sich in heilsgeschichtlichen Fakten und Worten „offenbart und Mythen vernichtet, treten nunmehr Produkte gnostischen Denkens nicht ohne kryptoreligiösen und heilsutopischen Charakter.“[11] Der aufgerissene Graben ist tiefer als der zwischen Luther und dem Papst. Vor allem das Alte Testament kommt hier unter Beschuß, in dem sich der „Ich bin, der ich bin“ offenbart, als Vater, Erlöser und Richter, als echtes, personales Gegenüber, nicht als der: „Stell dir einen Gott vor, der zu dir paßt“, nach deinem Ebenbilde.

4. …im neo- oder postevangelikalen Bereich

Die Zeitschrift „Aufatmen“ brachte im Sommer 2020 einen Artikel von Andy Stanley, Pastor der North Point Church, Atlanta, USA, einer der größten Gemeinden in den USA. Er ist Autor von über 20 Büchern. Darin vertritt er die These, die schon Harnack scharf artikuliert hatte: Das Alte Testament beizubehalten, ist Ausdruck einer kirchlichen Lähmung. Im O-Ton:

„Schlechte kirchliche Erfahrungen haben fast immer mit Überresten des alten Bundes zu tun.“ (S. 27)

„Erstens war Gottes Bund mit dem Israel der Antike geschlossen. Zweitens war Gottes Bund mit Israel nur vorläufig. Wichtig, strategisch, von Gott verfügt – aber nur vorläufig.“ (S. 28, Hervorh. orig.)

(Fortsetzung:) „Unachtsames Vermischen und Angleichen von Werten und Imperativen aus dem alten und [!] neuen Bund macht unseren Glauben unnötigerweise überhaupt nicht ‚unwiderstehlich‘ – obwohl ich glaube, dass er das eigentlich ist!“

Mit meinen Worten: Nimm das Alte Testament raus und auch das, was im Neuen Testament alttestamentlich ist, und dann geht bei deiner Gemeinde und Mission die Post ab. Speziell gegen das Alte Testament gerichtet schreibt er:

„Das Neue, das Jesus entfesselte, machte den Glauben der Gläubigen im ersten Jahrhundert überaus eindrucksvoll. Ihr Eintreten für diesen Glauben war unwiderlegbar. Ihr Mut unbestreitbar. Und die Ergebnisse waren bemerkenswert.“ (S. 28, Hervorh. orig.)

Und dann kommen Sätze, die sich anhören wie aus dem Zürcher oder Berliner systematischen Seminar:

„Die ganze Bibel ist Gottes Wort … für irgend jemanden. Aber sie ist nicht Gottes Wort für jeden. … Lieber christlicher Leser! Warum sollten sie überhaupt versucht sein, hinter das Kreuz zurück zu greifen, um Anleihen an einem Bund zu machen, der vorläufig und geringer war als der Bund, der für uns auf Golgatha geschlossen wurde? … Solange wir das Alte mit dem Neuen vermischen, wird uns die Schönheit und Kraft dessen entgehen, für das Jesus sein Leben gab, um es in der Welt zu entfesseln.“ (ebd.)

Ulrich Eggers (wenn ich recht sehe, damals der Herausgeber von „Aufatmen“) nahm kurz Stellung dazu und schrieb:

„Wir fanden diesen Text gerade für Menschen mit einem missionarischen Anliegen oder aus pietistischem oder freikirchlichen Hintergrund inspirierend und befreiend.“

Zum Glück wurden aus der Feder von Thomas Härry (hier vom TDS) und von Guido Baltes (Marburg) noch kritischere Kommentare dazu abgedruckt.

„Bibel-Cocktail oder Jesus?“ Wer diese Alternative aufmacht, hat nicht verstanden, daß alle Zutaten im großen „Bibel-Cocktail“ von Jesus herkommen und auf ihn zielen. Es ist nichts im Neuen, das nicht hinter sich sähe das Alte, und nichts im Alten, das nicht ein Träger Jesu Christi ist. „Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben“ (Joh 5,46). Es ist also keine Umdeutung, wenn sich uns Jesus als der im Alten Testament gegenwärtige und sich dort bezeugende erschließt, sondern die Umdeutung liegt gerade bei denen, die sich diesem Vorgang verweigern.

Vertreter des Christuszeugnisses des Alten Testaments sahen sich von liberalen Theologen immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sie nähmen das Alte Testament nicht in seiner Vielfalt ernst und würden alles in einen großen Christusblock vereinerleien. In der Sicht Jesu und der Apostel ist genau das Gegenteil der Fall: Wir entdecken die Fülle Christi erst, wenn wir ihn in der Vielfalt des Alten Testaments wahrnehmen. Darum gilt ihnen das folgende Jesus-Wort: Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“ (V. 47) Oder Mt 21,42f.:

Jesus sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen in der Schrift (Psalm 118,22–23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«? Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt.

Habt ihr nie gelesen? Wer auf das Alte Testament verzichtet, wird mit innerer Notwendigkeit gar nichts mehr verstehen. Alles wird ihm genommen und einem Volk gegeben, das seine Früchte bringt.

5. …oder Vernachlässigung aus Bequemlichkeit und Denkfaulheit

Über den tatsächlichen Gebrauch des Alten Testaments im Gottesdienst und Predigt berichtet eine statistische Erhebung in England, veröffentlicht im Jahr 2000 (neuere Studien dazu kenne ich leider nicht). Die Studie zeigt, daß die allgemeine Entkirchlichung und die Angriffe auf die Geltung des Alten Testaments die Kenntnis alttestamentlicher Geschichten auch innerkirchlich stärker beschädigt haben als die des Neuen Testaments. Nicht einmal alle Theologiestudenten haben zu Beginn ihres Studiums alle Teile des Alten Testaments gelesen. Es ist eine Mitschuld der alten Perikopenordnung, daß ca. 80% aller Predigten – erst recht bei Evangelisationspredigten (wenn es denn noch welche gibt) – von einem neutestamentlichen Text ausgehen, obwohl die Größenverhältnisse im Kanon genau umgekehrt sind.

Dazu kommt, daß die Auswahl der Texte, von denen „alttestamentliche“ Predigten ausgehen, sehr eingeschränkt ist. Selten finden alttestamentliche Predigtreihen statt; viel lieber befaßt man sich mit einigen wenigen Psalmen, bekannten Weissagungen aus Jesaja sowie einigen Abraham- und David-Geschichten. Das Gros der Texte findet nie Beachtung, jedenfalls nicht von den Kanzeln – und in der Folge auch nicht im stillen Kämmerlein. Ein selbstverstärkender Trend! Außerdem: Wird alttestamentlich gepredigt, so entfernen sich Prediger allzuleicht vom Text und predigen über bestimmte Themen, die sie in den Texten als relevant zu erkennen meinen: „Sprungbrett-Predigten“, die die Bedeutungsfülle der Einzeltexte kaum mehr erkennen lassen. In Vorbereitung und Durchführung ihrer Predigt kommt der auf einzelne Wörter, Worte und innerbiblische Zusammenhänge bezogene Sehakt zu kurz (was auch für die Predigt neutestamentlicher Texte gilt).

Stefan Schweyer sieht den bevorzugten Gebrauch des Neuen Testaments als Ausdruck eines Gemeindeverständnisses, nach welchem die christliche Gemeinde an Pfingsten geboren wird und in einer starken Diskontinuität zum alttestamentlichen Gottesvolk steht. „Das führt dazu, dass das Neue Testament als zentraler Referenzpunkt für Gemeinde und Gottesdienst betrachtet wird. Das Alte Testament steht im Vergleich damit dann deutlich im Hintergrund.“[12]

Von den verschiedenen grafisch aufbereiteten Statistiken sehen wir heute nur eine, und zwar diejenige, die über den Inhalt von Gemeindeveranstaltungen (incl. Gottesdienste) Auskunft gibt. Von den verschiedenen Teilen der Bibel konnten die Befragten drei Antworten ankreuzen. Die Studie galt als repräsentativ mit hoher Wahrscheinlichkeit.

Den ersten Platz erhalten die neutestamentlichen Briefe, dann die Evangelien, Apostelgeschichte, dann erst das Alte Testament, das als nicht maßgebend für den Inhalt von Gemeindeveranstaltungen angesehen wird. Die rote Laterne trägt die Johannesoffenbarung.

Man könnte fragen, ob die Zurückhaltung im Gebrauch des Alten Testaments nicht insofern sachgemäß ist, als es der Verkündigung darum gehen muß, Kreuz und Auferstehung zu predigen und diese Dinge im Alten Bund eben nur sehr verhüllt bzw. nur aufgrund einer vom Neuen Testament bestimmten Haltung und Sichtweise zu entdecken sind. In 2. Tim 3,16 nennt Paulus das Alte Testament jedoch ganz allgemein, also auch für die neutestamentlichen Wahrheiten:

Die Schrift … kann dich unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus. Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.

Wer das Alte Testament der Gemeinde vorenthält, zeigt mithin, daß sein Verständnis des Neuen Testaments Defizite hat: Was Du der Raupe wegschneidest, fehlt dem Schmetterling, sagte Wilhelm Vischer.[13] Sagen wir es biologisch genauer: Wer die Raupe beschneidet, bekommt überhaupt keinen Schmetterling.

Das Alte Testament ist nütze zur Lehre, zur Besserung, zur Gerechtigkeit usw. – das heißt: Durch die Predigt des Alten Testaments wird der neutestamentliche Glaube genährt und gestärkt. Und dieser Glaube sucht weiter in der Schrift, ob es sich also verhielte – laut Apg 17,11 war dies das Alte Testament. Eines bedingt hier das andere, kein Kanonteil ist ohne den anderen sinnvoll. Das gilt nicht nur für die Predigt an Christen, sondern auch für das evangelistische Wort nach außen. Emil Brunner sagte 1934 beim Basler Missionsfest:

„Die Kirche steht und fällt mit dem Alten Testament, ebenso wie sie mit Jesus Christus steht und fällt. Ohne das Alte Testament gibt es keinen Jesus Christus.“
„Der Christusname ist die Klammer, die Jesus und den Alten Bund unzertrennlich zusammenhält.“

Oder mit Wilhelm Vischer: Das Alte Testament sagt, was der Christus ist, das Neue, wer er ist.[14] Der Christus-Name und damit das Wesen Jesu als Christus ist es, was uns beide Testamente so unentbehrlich macht für unser Zeugnis gegenüber der Welt.

Die Testamente gehören zusammen, wie Wasser und Glas, wobei beide Deutungen denkbar sind: das Alte Testament als das Glas, das Neue als das Wasser, aber auch umgekehrt: das Alte Testament als das Wasser, das Neue als das Glas.

2. […]

3. Was lernen wir? Ein paar Thesen

a)    Wer das Alte Testament aus dem Kanon nimmt oder sich ihm sonst nicht mehr auseinandersetzen will, schafft das Christentum, das Christsein, die ganze Kirche ab. Schon unser Name wäre völlig entleert: chriein, salben … Ein Christentum ohne Salbung ist wie ein Schiff ohne Hülle.

b)    Wer das Alte Testament abschafft (im Sinne von These a), hat keinen Christus Jesus mehr, nur noch einen selbstgebastelten Patchwork-Jesus, zusammengesetzt aus seinen aktuellen Lieblingsideen.

c)     Wer das Alte Testament abschafft, schafft nicht nur die Kirche ab, sondern zerteilt die Menschen erneut in Juden und Heiden. Den Frieden, den Jesus, der Christus gebracht, muß er dann anderswoher beziehen. Ein Ding der Unmöglichkeit. „Meinen Frieden gebe ich euch …“

d)    Wer das Alte Testament abschafft, ist auch im Neuen Testament zu scharfen Schnitten gezwungen und verfällt so den aktuellen Lieblingsideen und Moden. Von der leibfeindlichen Gnosis bis zum schöpferfeindlichen Genderismus sind nur ein paar Schritte zu gehen.

e)    Maßgebend für den rechten Gebrauch des Alten Testaments ist das Neue.

f)     Der Widerstand gegen das Alte Testament ist deswegen so vehement, als in ihm – und wo sonst? – die Götter und die Mythen entzaubert und entmächtigt werden. Wer den Menschen ermächtigen will, sich selbst zur religiösen Norm zu erheben, muß zuerst die entgegenstehenden Normen beseitigen.

g)    Bei dieser Beseitigung muß auch das Neue Testament plattgewalzt werden, weil der Sohn Gottes als Sohn Davids inkarniert wurde und nicht anders zu haben ist. „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22) heißt: durch den Sohn Davids, durch das Alte Testament. Aus einem Bollwerk gegen die menschliche Selbsterhebung und Selbsterlösung macht man einen Steinbruch für unsere Willkür, ein dünnes Brünnlein für eine vitaminlose Wassersuppe – und ruft so den Zorn Gottes auf sich herab. Wer aber dieses Wort als seine Speise, als herzerfreuende, richtende und aufrichtende Quelle von Glaube und Leben annimmt (Ps 19), wird auf jede Weise versuchen, es sich und der Gemeinde präsent zu halten (Dtn 6) und seinen Mitmenschen lieb zu machen.

Zum Autor

Pfr. Dr. Stefan Felber ist seit 2022 hauptamtlicher Leiter des Gemeindehilfsbundes (gemeindehilfsbund.de), mehr auf seiner Webseite www.stefan-felber.ch.

[1] Siehe Lietzmann (1953), S. 268–278.

[2] AaO. 40f. (Hervorh. kursiv orig., fett S.F.).

[3] Belege aus Sierszyb (2015), S. 278f. 283.

[4] https://dachau.karmelocd.de/karmel-hl-blut.html (26.09.2023).

[5] Zitiert nach Zenger, Feindpsalmen verstehen (Psalmen 4), 38.

[6] AaO. 39.

[7] Slenczka, Notger: Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017, 506 S., vgl. S. Felber: Review-Article in EuroJTh 27, 2/2018, S. 181–186.

[8] AaO. S. 24f; die Auffassung von der Aufnahme der Kirche in den Bund Israels hält er zugleich für eine unerfreuliche Umarmung des kleineren Partners, S. 35. 304 u.ö.

[9] https://www.ekbo.de/service/gottesdienst-geschlechtergerecht/glaubensbekenntnis.html (26.09.2023).

[10] Quelle laut obiger Website: Ilka Sobottke, mit freundlicher Genehmigung für den Evangelischen Frauengottesdienst 2017.

[11] Sierszyn (2015), 276.

[12] Schweyer S. 350. Schweyer verweist hierzu auch auf eine Berner Freikirche, die sich „Neutestamentliche Gemeinde“ nennt. Sie stelle sich so vor: „Sie [die Gemeinde] soll auf den Richtlinien der Bibel basieren und ist nach dem Vorbild der Christengemeinde im Neuen Testament aufgebaut.“ 2023 lautet die Selbstvorstellung so: „Die Neutestamentliche Gemeinde (NTG) ist eine Freikirche in Kehrsatz. Wir orientieren uns an der gesamten Bibel, betreffend Gemeindebau insbesondere am Neuen Testament. Ein Ziel unserer Gemeinde ist, zu helfen, dass Menschen in Familie, Beruf und Berufung konstruktiv werden.“

[13] „Jedes Glied, das man der Raupe wegschneidet, fehlt dem Schmetterling. … So ist jede Streichung, die man am alten Testament vornimmt, auch eine Verkürzung der neutestamentlichen Botschaft. Sage mir, was du am Alten Testament streichst, und ich sage dir, was der Defekt deiner christlichen Erkenntnis ist“ (Das alte Testament als Gottes Wort, 1927, 386).

[14] Vischer (1936), S. 7.